Europa
feiert in diesen Tagen. Man legte die Unterzeichnung der römischen
Verträge als Geburtszeitpunkt der heutigen Europäischen
Union fest - und diese liegt heute auf den Tag genau 50 Jahre zurück.
Die Granden dieses Multiversums, das sich EU nennt, klopfen sich
heute reihum gegenseitig auf die Schulter - viel habe man erreicht.
Als Höhepunkt des Jubliäums ist für heute die
gemeinsame und feierliche Unterzeichnung der "Berliner
Erklärung" vorgesehen, die - unterzeichnet von allen
inzwischen 27 Mitgliedstaaten - dem dahinfließenden Fluss EU
für die kommenden Jahre ein Flussbett schaffen soll.
Was
ist nun eigentlich die "EU"? Sie ist kein Bundesstaat, kein
Staatenbund - sie ist irgendetwas zwischen allen Welten. Und genau da
liegt ihre eigentliche Stärke - sie ist der lebende Beweis
dafür, dass es Wege gibt, die Grenzen engstirniger
Nationalstaatlichkeit und anderer Fanatismen zu überwinden.
Beeindruckender
als das folgende Bild kann kaum etwas den bisherigen Erfolg der EU
visualisieren. 493 Millionen Menschen mit unterschiedlichen
Traditionen in Nationalität, Kultur und Religion leben seit
Jahrzehnten aller historischen Konflikte unter ihnen zum Trotze
friedlich in diesem auf der Welt einmaligen Multiversum zusammen.
Auf
leisen Sohlen kam sie über eine organisch gewachsene
wirtschaftliche und administrative Integration daher und und
überschreitet inzwischen geographisch die Fußstapfen der
ehemalig epochalen Weltmacht Rom. Es ist richtig - die EU war und ist
ein Projekt der Eliten - enorme Widerstände waren bis heute zu
überwinden. Selbst heute ist die real existierende EU des
Alltags meistenorts eher unbeliebt denn beliebt -
Gurkenkrümmungsradien, Vorschriften- und Bürokratiedickicht
sowie Teuro machen den Menschen zu schaffen - und doch gewöhnen
sie sich von Generation zu Generation mehr an das Neue.
So
darf man jenen Menschen, die sich in der Vergangenheit für
dieses Projekt eingesetzt, es immer wieder vorangebracht haben,
gratulieren. Man folgte einer Vision und verstand es bislang, diese
mit viel Geduld und Zähigkeit und vor allem mit Augenmaß
weiter voran zu bringen. Die EU beweist gradezu, dass es nicht klug
sein kann, historische Prozesse und Entwicklungen in
Legislaturperioden und Kurzfristzeiträumen zu zwängen. Die
bisherige Entwicklung schuf einen vieldimensionalen kulturellen
Austausch zwischen den Nationen, den es weltweit in solcher Form
nicht noch einmal gibt. Menschen beginnen, sich zunehmend von
Europäer zu Europäer zu begegnen und immer weniger von
Nation zu Nation.
Wer
nur mal einen Blick in die Geschichte wirft und schaut, wie schwierig
allein die Entstehung Deutschlands war, muss vor der enormen
Gesamtleistung von 50 Jahren EU-Politik den Hut ziehen. Doch alles
Feiern hilft nicht darüber hinweg, auch nüchtern zu
erkennen - worin die Stärke und letztlich auch der Erfolg dieser
Politik lag. Die EU ist keine verschmolzene oder neue Nation - auch
widerstand man bislang der Versuchung, den Menschen solches
überzustülpen. So ist sie zu diesem Multiversum
verschiedener Völker geworden, die gerade einmal soviel
Gemeinsamkeit praktizieren, wie es ihnen jeweils sinnvoll und geboten
erscheint.
Die
Leistung der EU-Politik liegt in ihrer Effektivität in der
Findung des größten gemeinsamen Nenners. Hierin ist sie
weltweit richtungsweisend als Modell auf dem Weg in ein
Zusammenfinden der Völkergemeinschaft. Das konnte nur
funktionieren, solange sich die EU aus dem weltweiten Machtgerangel
heraus hielt und sich stattdessen auf gemeinsames Wirtschaften und
friedliches Weiterentwicklen verlegte.
Und
hier stehen der EU nun schicksalhafte Jahre bevor. Wie immer in der
Geschichte machen Erfolge Appetit auf mehr. Lange widerstanden die
beteiligten Eliten der Versuchung, den historischen Prozess des
Zusammenwachsens der Nationen zu überfordern. Auch hier hilft
der Blick in die deutsche Geschichte - die Bildung eines deutschen
Staates wurde transportiert wenn nicht gar überlagert von einer
nationalromantischen Kampagne, die letztlich zur Entgleisung führte
- politisch und auch in den Köpfen der Menschen. Die Folge: zwei
grauenhafte Weltkriege fegten über Deutschland hinweg begleitet
von unvorstellbaren Deformationen menschlicher Vernunft.
Wenn
heute so viel von Feiern und Erfolg die Rede ist, gilt es vor allem
auch zu mahnen - unsere heutigen Eliten zu mahnen, die Wurzeln des
bisher erreichten Erfolges und sein wahres Ausmaß niemals aus
den Augen zu lassen. Die EU Verfassung und das Vorhaben, dieses
unfertige Gebilde in die Verantwortung internationaler Machtpolitik
stürzen zu wollen, könnte sonst der erste Schuss in der EU
werden, der voll nach hinten losgeht.
Wer
sagt eigentlich, dass die EU sich in die von fremden Mächten -
vor allem von den USA - vorgegebene Machtsturktur einordnen muss? Es
gibt kein EU-Volk, es gibt keine EU-Streitkräfte - und das ist
gut so. Keine Streitkräfte können schließlich dann
auch im Namen einer an sich guten Sache keine Schäden anrichten
- was nicht zuletzt der guten Sache nutzt. Die Stärke der EU
waren in der Vergangenheit niemals Panzer und Raketen. Ihre Stärke
war die gewachsene politische Kultur im Umgang mit diffzilen
Interessenkonflikten - solche in gegenseitigem Respekt und mit
unendlicher Geduld einer vielleicht nicht immer idealen aber doch
einer Lösung zuzuführen.
Das
unterscheidet EU-Politik fundamental von jener der USA, die unter
Präsident Bush um Jahrzehnte zurückentwickelt wurde. Was
soll das - die EU in einem "Krieg gegen den Terror" - Eine Bevölkerung von 493
Mio Menschen mit jahrhundertelanger Kriegserfahrung im kollektiven Gedächtnis
- das unterscheidet sie erheblich von jener der USA - fällt
nichts Besseres ein, als einen veritablen Krieg gegen eine Horde
ausgeflippter Moslems zu führen? Soll das jener Acker sein, auf
dem künftig die Völker der EU sich und anderen einander
näher kommen? Wenn dieser Acker das Schlachtfeld sein soll -
wie ehedem in Europa auch - wird dieses Näherkommen erst dann
möglich sein, wenn weitgehend alles in Schutt und Asche liegt.
An
einer Wende der künftigen EU-Politik in diese Richtung ist unter
den heutigen Rahmenbedingungen und auch in Anbetracht des zurücklegten Weges alles falsch, was nur falsch sein
kann. Dennoch wollen viele in den Eliten diesen Weg - der
EU-Verfassungsvertrag soll Europa für die wirschaftliche und
militärische Kriegsführung konditionieren. Und dies ohne stringente demokratische Kontrolle - hierfür ist diesen Leuten nicht
zu applaudieren - hierfür sind sie auszubuhen. Denn es sind
nicht diese Eliten, die die EU so wie wir sie heute haben, zustande
brachten.
Doch zunächst werden es die Eliten heute fertig bringen, zum 50-jährigen
Geburtstag der EU die folgende Erklärung gemeinsam und feierlich
zu verabschieden, die ich hier bewusst einmal im Wortlaut wiedergeben
möchte:
"Europa
war über Jahrhunderte eine Idee, eine Hoffnung auf Frieden und
Verständigung. Diese Hoffnung hat sich erfüllt. Die
europäische Einigung hat uns Frieden und Wohlstand ermöglicht.
Sie hat Gemeinsamkeit gestiftet und Gegensätze überwunden.
Jedes Mitglied hat geholfen, Europa zu einigen und Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit zu stärken. Der Freiheitsliebe der Menschen
in Mittel- und Osteuropa verdanken wir, dass heute Europas
unnatürliche Teilung endgültig überwunden ist. Wir
haben mit der europäischen Einigung unsere Lehren aus blutigen
Auseinandersetzungen und leidvoller Geschichte gezogen. Wir leben
heute miteinander, wie es nie zuvor möglich war.
Wir
Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind zu
unserem Glück vereint.
Wir
verwirklichen in der Europäischen Union unsere gemeinsamen
Ideale: Für uns steht der Mensch im Mittelpunkt. Seine Würde
ist unantastbar. Seine Rechte sind unveräußerlich. Frauen
und Männer sind gleichberechtigt. Wir streben nach Frieden und
Freiheit, nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, nach gegenseitigem
Respekt und Verantwortung, nach Wohlstand und Sicherheit, nach
Toleranz und Teilhabe, Gerechtigkeit und Solidarität.
Wir
leben und wirken in der Europäischen Union auf eine einzigartige
Weise zusammen. Dies drückt sich aus in dem demokratischen
Miteinander von Mitgliedstaaten und europäischen Institutionen.
Die Europäische Union gründet sich auf Gleichberechtigung
und solidarischem Miteinander. So ermöglichen wir einen fairen
Ausgleich der Interessen zwischen den Mitgliedstaaten.
Wir
wahren in der Europäischen Union die Eigenständigkeit und
die vielfältigen Traditionen ihrer Mitglieder. Die offenen
Grenzen und die lebendige Vielfalt der Sprachen, Kulturen und
Regionen bereichern uns. Viele Ziele können wir nicht einzeln,
sondern nur gemeinsam erreichen. Die Europäische Union, die
Mitgliedstaaten und ihre Regionen und Kommunen teilen sich die
Aufgaben.
Wir
stehen vor großen Herausforderungen, die nicht an nationalen
Grenzen halt machen. Die Europäische Union ist unsere Antwort
darauf. Nur gemeinsam können wir unser europäisches
Gesellschaftsideal auch in Zukunft bewahren zum Wohl aller
Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union. Dieses
europäische Modell vereint wirtschaftlichen Erfolg und soziale
Verantwortung. Der Gemeinsame Markt und der Euro machen uns stark. So
können wir die zunehmende weltweite Verflechtung der Wirtschaft
und immer weiter wachsenden Wettbewerb auf den internationalen
Märkten nach unseren Wertvorstellungen gestalten. Europas
Reichtum liegt im Wissen und Können seiner Menschen; dies ist
der Schlüssel zu Wachstum, Beschäftigung und sozialem
Zusammenhalt.
Wir
werden den Terrorismus und die organisierte Kriminalität
gemeinsam bekämpfen. Die Freiheits- und Bürgerrechte werden
wir dabei auch im Kampf gegen ihre Gegner verteidigen. Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit dürfen nie wieder eine Chance haben.
Wir
setzen uns dafür ein, dass Konflikte in der Welt friedlich
gelöst und Menschen nicht Opfer von Krieg, Terrorismus oder
Gewalt werden. Die Europäische Union will Freiheit und
Entwicklung in der Welt fördern. Wir wollen Armut, Hunger und
Krankheiten zurückdrängen. Dabei wollen wir auch weiter
eine führende Rolle einnehmen.
Wir
wollen in der Energiepolitik und beim Klimaschutz gemeinsam
vorangehen und unseren Beitrag leisten, um die globale Bedrohung des
Klimawandels abzuwenden.
Die
Europäische Union lebt auch in Zukunft von ihrer Offenheit und
dem Willen ihrer Mitglieder, zugleich gemeinsam die innere
Entwicklung der Europäischen Union zu festigen. Die Europäische
Union wird auch weiterhin Demokratie, Stabilität und Wohlstand
jenseits ihrer Grenzen fördern.
Mit
der europäischen Einigung ist ein Traum früherer
Generationen Wirklichkeit geworden. Unsere Geschichte mahnt uns,
dieses Glück für künftige Generationen zu schützen.
Dafür müssen wir die politische Gestalt Europas immer
wieder zeitgemäß erneuern. Deshalb sind wir heute, 50
Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge, in
dem Ziel geeint, die Europäische Union bis zu den Wahlen zum
Europäischen Parlament 2009 auf eine erneuerte gemeinsame
Grundlage zu stellen.
Denn
wir wissen: Europa ist unsere gemeinsame Zukunft.“
Ein gute Erklärung - wenn man vielleicht im letzten Absatz
auch noch hätte mehr betonen müssen, dass unsere Zukunft
nicht Europa - sondern immer nur das Europa in der Welt sein kann.
Die Welt und wie es in ihr ausschaut darf auch ein Europa bei all
seiner Vielfalt und Größe nicht ausblenden. Ein kleiner
aber nicht unwichtiger Unterschied, hinter dem - noch in weiter Ferne
- die nächste Idee nach der europäischen aufzieht. Und für
diese neue Idee könnte Europa einestages zum Prezedenzfall
werden, sofern es weiter gelingt, der Versuchung zum Größenwahn
zu widerstehen.
EU-Ratsvorsitzende
und Kanzerlin Merkel wird für diese Erklärung gefeiert -
das könnte man auch wesentlich unbekümmerter, wenn man es als Deutscher
unter ihrer Regierung nicht besser wüsste - Sonntagsreden allein
nämlich machen noch lange keine Politik. In der Politik zählen
nur die realen Fakten und nicht das Gebrabbel drumrum. Und es muss
erlaubt sein, die obige Erklärung mit den realen Entwicklungen
im Deutschland dieser Tage quer zu lesen - was einem dann allerdings
die Feierstimmung gründlich austreibt.
Es
erhebt sich die Frage nach der Aufrichtigkeit der Beteiligten, wenn
sie es fertig bringen, von "friedlicher Konfliktlösung in
der Welt" zu schwafeln, während Soldaten verschiedener
Länder im Irakkrieg und in diesem wahnsinnigen "Krieg gegen
den Terror" bereits ins Gras beißen. Es besteht die Gefahr, das die Realpolitik
diesen schönen Text oben noch am Tage seiner
Unterzeichnung genauso entwertet, wie bei näherem Hinsehen der Entwurf für
den Verfassungsvertrag. Und es sind die Eliten selbst, die dies mit
der Diskrepanz zwischen ihren Worten und ihrem Handeln tun.
Wäre
Europa so begonnen worden - es wäre gewiss niemals dorthin
gelangt, wo es heute ist. Heute steht die EU vor epochalen
Herausforderungen auf vielen Gebieten - und das gewiss blödsinnigste
Feld für den Einsatz europäischer Energie ist die Schaffung
einer EU-Armee. Ganz andere Fragen wären da eigentlich zu
beantworten - wie kann eine zukünftige gerechte und sinnvolle
Wirtschaftsordnung aussehen - denn eine solche gibt es nicht auf
dieser Welt. Wie wir in Europa an diesem Jahrestag aber sehr genau
wissen, ist ohne eine solche ein dauerhafter Friede kaum möglich.
DAS wären doch mal ein Gebiet, auf dem unsere Eliten orientiert am
Vorbild der EU-Väter und Mütter Zukunft wirklich gestalten
könnten.
Es
war nicht anders zu erwarten - der Papst musste immer noch etwas zum Näseln an
dieser Erklärung finden. Ihm fehlt die Würdigung der
christlichen Wurzeln Europas. Na schön, das mag er ruhig so
sehen - doch Europa ist nicht einig geworden, weil es christlich in
seinem Sinne war, sondern weil es das enge geistige Korsett
religiöser Dominanz überwinden konnte. Wären die
Muslime in der Welt heute auch schon dort angekommen - George W. Bush müsste
sich einen neuen Kriegsgegner suchen.
Die
Menschen in Europa wollen keine Kriege - sie haben zu recht die Nase
voll von all dem unendlichen Leid, welches stets im Interesse
irgendwelcher belanglosen und zumeist fragwürdigen Ziele seit
Jahr und Tag über Abermillionen von Menschen gebracht wurde. Die
Menschen wollen keine religiöse Ausgrenzung - und sie wollen
keinen Konflikt zwischen Christen und Muslimen. Wenn die Türkei
die Aufnahmebedingungen für die EU erfüllt, wird in ein
paar Jahren erstmals ein islamischer Staat dieser Gemeinschaft
beitreten. Dies wäre weltweit ein derart wichtiges Signal für
die Intergrationkraft menschlicher Vernunft, dass es sich geradezu verbietet, es irgendwelchen Partialinteressen zu opfern.
Den
Weg bis hierher geschafft zu haben, ist das, was heute uneingeschränkt
zu feiern ist. Die EU ist unvollkommen, sie hat eine Menge Probleme,
steht vor großen Herausforderungen. Aber das war immer so - und
immer entwickelte man letztlich die Weisheit und die Kraft, wieder
einen Fuss in die richtige Richtung zu setzen. Und immer waren es
keine Kampfstiefel auf fremden Böden, die diesen Fuss auf seinem
Weg voranbrachten.
So
kann unser Kommentar zum 50. EU-Geburtstag leider nur zweigeteilt ausfallen -
Gratulation und Anerkennung für den zurückgelegten Weg und
zugleich eine eindringliche Mahnung an die heutige EU-Elite, die obige
Erklärung dann auch wirklich beim Worte zu nehmen. Denn das würde
eigentlich ausschließen, dass die EU-Zukunft durch dieses
500-seitige Machwerk, das sich "Vertrag für eine Verfassung
für Europa" nennt oder durch eine zu diesem Zeitpunkt überflüssige EU-Armee von ihrem bislang ordentlichen Weg abkommt.
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