Es
war versprochen - hier also nun trotz intensiver Vorarbeit für
erhebliche Umstellungen bei CogitoSum, die Aktualisierung unseres
Befundes
vom 20.10.2010. Man kann nicht behaupten, dass zwischenzeitlich
nichts geschehen wäre. Aufschwungs-Oberfolkorist Brüderle ist nicht
mehr Wirtschaftsminister und sein den Armen des Landes "spätrömische
Dekadenz" vorhaltender Gesinnungskollege wird derzeit aus seiner
Außenminister-Rolle sozusagen medial "herausgeschrieben".
Halten wir uns nicht lange mit der überwältigenden Materialfülle
auf, die die Realität derzeit vor uns auftürmt - wenden wir uns
direkt dem Befund zu, der 2010 hier als Reaktion auf den für normale
Menschen kaum noch zu ertragenden Aufschwungshype von Brüderle und
dem Medienkartell entstehen musste. Über Änderungen in den Grafiken
wundern Sie sich bitte nicht - ihre Ursache ist, dass die Zeitreihen
für die letzten 5 Jahre laut destatis
einer turnusmäßigen Überarbeitung unterzogen wurden, die wir hier
gleich mal mit eingearbeitet haben. Gleichwohl - unserem damaligen
Ansatz bleiben wir treu und verknüpfen nach wie vor folgende
wichtigen Kennwerte: Arbeitnehmerentgelt, Einkommen aus Unternehmen
und Vermögen, Verbraucherpreisentwicklung und die Anzahl der
Erwerbstätigen nach ILO-Systematik. Neugierig bleiben wir trotzdem,
schließlich stehen ja gleich zwei kleine Wunder aus: Erste Frage
ist, könnte es der XXL-Aufschwung 2010 in den späteren Quartalen
vielleicht doch in die Realität von Otto Normalverbraucher geschafft
haben? Und die zweite Frage wäre, ist denn wenigstens beim
"überraschend" starken ersten Quartal 2011 etwas
herausgesprungen für ihn?
Nehmen
wir die gute Nachricht vorweg - die Situation hat sich wenigstens
nicht dramatisch verschlechtert - noch zumindest nicht. Zur näheren
Erläuterung der Berechnung und der Grafiken können Sie sich diesen
Artikel mit einem erklärenden Anhang herunterladen:
Artikel und Erläuterung (791.86 KB)
Doch nun im
Detail zu unseren Fragen:
1.
Wo ist er denn nun - der Aufschwung 2010?
Hatte
sich der XXL-Aufschwung von Brüderle schon in unserem letzten
Report zum Quartal II/2010 als janusköpfig erwiesen, so blieb
auch in den beiden Folgequartalen 2010 - für die breite Bevölkerung
zumindest - davon weiterhin keine Spur. Verglichen mit der
Aufschwungs-Folklore von Brüderle selbst und in den Medien, wo man
die deutsche Wirtschaft als Konjunktur-Lokomotive wechselweise mal im
EU- mal gar im Weltrahmen pries, kommen die wahren Ergebnisse eher
ernüchternd daher. Trotz des mit reichlich medialem Getöse
angekündigten großen Schluck aus der Lohnpulle blieben Arbeitnehmer
hier auch 2010 im Tal der Tränen gefangen. Statistisch blieben ihre
nominal gestiegenen Einkommen durch preissteigerungsbedingte
Reallohnverluste als auch von der Demographie her unter Druck -
letzteres, weil der Erwerbspersonenanteil unter der Bevölkerung
derzeit noch im Bereich eines Allzeithochs pendelt. Die Folge heißt
klar: verglichen mit 2000 liegt man beim preisbereinigten
Arbeitnehmereinkommen pro Kopf weiterhin im Minusbereich. Eine
Bemerkung muss man noch hinzufügen: die demografische Entwicklung
WIRD erst noch zuschlagen - dies wäre nicht unbedingt ein unlösbares
Problem bei einer ordentlichen Lohnstruktur - mit "Billiglöhnern"
allerdings droht das Ganze geradewegs in eine Katastrophe für unsere
Sozialsysteme zu kippen.
2.
War denn wenigstens Quartal I/2011 ein starkes Quartal?
ANEK
und UVEK wechselten zwar wieder mal von Divergenz auf Konvergenz. Ein
Blick auf unsere Grafik macht jedoch schnell klar, das passiert alle
Jahre wieder - doch niemals so nachhaltig, dass von Trendwende die
Rede sein könnte. Auch im durchaus ordentlichen Quartal I/2011 hat
es die Arbeitnehmerseite pro Kopf wieder einmal nicht in die Region
realer Zuwächse bezogen auf 2000 geschafft. So steht es hier im
Grunde wenig verändert gegenüber unserem letzten Befund:
preisbereinigt 3,2% weniger pro Kopf als 2000. Immerhin - zum ersten
mal seit 2002(!) liegt das gesamte Arbeitnehmereinkommen nach
Preisbereinigung wieder minimal über der Marke aus dem Jahr 2000 -
aber es gibt auch im Durchschnitt gut 1 Mio Erwerbstätige mehr. Das
trägt letztlich dazu bei, dass der Pro-Kopf-Vergleichswert weiter im
Minus verharrt, sich allerdings gegenüber -7,1% aus Quartal IV/2010
spürbar erholte.
Auch
wenn unsere Rechnung stark vereinfacht ist und nur ein paar
wesentliche Größen in Beziehung setzt: diese blau-grünen Gebirge
weit über den rot-orange Kurven sind weder selbstverständlich noch
harmlos. In den Jahrzehnten zuvor wird man solche daher auch
vergeblich suchen. Viel mehr sind sie Kern der Ursache für die sich
weiter rapide öffnende Schere zwischen Arm und Reich hierzulande.
Der überwiegende Teil dessen, was im zurückliegenden Jahrzehnt an
Wirtschaftsleistung auf diese Weise umverteilt wurde, fließt nicht
zurück in sie, oft verlässt es gar ganz die Grenzen des Landes.
Mitgenommene Gewinne werden insoweit direkt zu Kapital, als sie nicht
konsumiert werden - Kapital welches dann weltweit auf die Suche nach
möglichst profitabler Anlage geht. Bei Lohnzuwächsen ist es genau
anders herum - nur ein kleiner Teil wandert ins Kapitalcasino,
während der überwiegende Rest in unsere Binnenwirtschaft strömt,
weil es eben immer mehr Menschen gibt, bei denen sich ein
tatsächlicher Nachholbedarf bildet, was ihren Lebensstandard
betrifft.
Hinsichtlich
des Arbeitnehmereinkommens muss man dabei allerdings noch einen
Effekt im Hinterkopf behalten, der in unseren Kurven nicht enthalten
ist. Es geht um einen weiteren und keineswegs geringen Beitrag zur
Schere zwischen Arm und Reich - die Lohnspreizung. Gemeint ist das
Verhältnis zwischen höchsten und niedrigsten Einkommen. Wenn bei
konstanter Lohnsumme die Lohnspreizung wächst, bedeutet das
glasklar: hier wachsen höhere Löhne zu Lasten niedrigerer Löhne.
Volkswirtschaftlich eher ein Minusgeschäft, denn: jeder auf diese
Weise umverteilte Euro wechselt von der binnenwirtschaftlich
wirksamen Seite auf eine binnenwirtschaftlich weniger wirksame Seite,
zu der auch die Sparquote zu zählen ist. Ähnliches gilt auch für
Steuern und Abgaben. Hohe Arbeitseinkommen sowie Einkommen aus
Unternehmen und Vermögen tragen zu Staat und Sozialsystemen in
Relation weitaus weniger bei, als kleine und vor allem die mittleren.
Zusammengefasst
bedeutet dies: unsere gegenwärtigen Verhältnisse honorieren
weiterhin vor allem Einkommen aus Unternehmen und Kapital sowie
Hocheinkommen. Mittlere und niedrigere Einkommen indes stagnieren
oder fallen. Auch wenn die untersten Lohngruppen inzwischen kaum noch
zum Steueraufkommen (wohl aber zum Sozialversicherungsaufkommen)
beitragen, so bleiben sie praktisch nicht mehrbelastbar - im
Gegenteil. Der Staat setzt sogar wertvolle Steuermittel ein, und
subventioniert so Niedrigstlöhne absurderweise auch noch. Voll unter
Druck stehen indes die mittleren Einkommen - sie werden voll zu
Steuern herangezogen und sind zusätzlich bis hin zu den
Beitragsbemessungsgrenzen auch voll mit Sozialabgaben belegt.
Umso
bedenklicher auch die folgende - für "Coup-Berichte" auf
CogitoSum neue - Grafik. Sie nimmt aus den Ursprungsdaten von
destatis abgeleiteten und für jeden gut vorstellbaren Größen
Arbeitnehmereinkommen pro Kopf und Einkommen aus Unternehmen und
Vermögen pro Kopf und bildet ihre zeitliche Entwicklung sowohl
nominal wie auch preisbereinigt auf einen Trend ab - wofür einfache
lineare Regression bemüht wird.
Das
Resultat spricht eine deutliche Sprache. Das Nominalwachstum des
Arbeitnehmerentgelts pro Kopf verkehrt sich preisbereinigt ins
Gegenteil. Bei den Einkommen aus Unternehmen und Kapital gibt es zwar
auch eine sich öffnende Schere - dies ist bei fortgeschriebener
Preissteigerung zwangsläufig so - dennoch weist auch der
preisbereinigte Trend deutlich ins Positive, womit hier Umverteilung
klar sichtbar wird. Zu erwarten wären in etwa ähnlich geneigte
Kurven.
Der
Befund ist so derart klar, dass selbst uns das überrascht hat. Es
geht hier nicht um Kleinigkeiten oder Neiddebatten - diese Grafik
zeigt wie wenige im Land, in welchem Ausmaß Arbeitnehmer in
Absurdistan rasiert werden - und es trifft vor allem den Mittelstand.
Eines der Probleme hier ist, dass man solche Grafiken sonst nirgendwo
findet - obwohl hier mit kaum mehr als den vier Grundrechenarten die
tägliche Erfahrung vieler Menschen mit der Information, die
Statistik eigentlich bieten würde, in Einklang gebracht wird. Die
traurige Wahrheit ist: niemand unter den kommerziellen Medien wird
darüber schreiben wollen - es könnten ja Anzeigenkunden sauer
werden.
Natürlich
sind die Berechnungen des BIP bei destatis um ein vielfaches
detaillierter und aufwändiger als unsere einfache Rechnung hier. Der
Sinn des ganzen Aufwands bleibt aber letztlich, eben hoch verdichtete
Kennwerte zu ermitteln. Deren Weiterverarbeitung muss mithin auch zu
plausiblen Ergebnissen führen - auch wenn wir z.B. nun keine
unterschiedlichen Trends für einzelne Branchen betrachten, sondern
uns einen Überblick über die Unterscheidung zwischen Einkommen aus
Arbeit und Einkommen aus Unternehmen und Kapital verschaffen wollen.
Betrachtet
man die Berechnungen von destatis zu Löhnen und Einkommen näher, so
kommen an vielen Stellen komplexe Erhebungen der Bundesagentur für
Arbeit ins Spiel, die wir hier systematisch ausgelassen haben. Falsch
ist dieses Vorgehen gleichwohl nicht - im Gegenteil es verschafft
sehr viel schneller einen Überblick, weil es eben auf schwer
verrückbaren Eckwerten basiert. Dies bedeutet nun nicht, dass man
nun die destatis Arbeit in Frage stellen muss. Vielmehr liefert das
Amt eben im wesentlichen Statistiken mit solchen Inhalten, die aus
dem politisch-ökonomischen Bereich nachgefragt werden. Doch wer dort
hat schon ein Interesse, z.B. Mechanismen fortschreitender
Vermögenskonzentration auf den Grund zu gehen?
Wie
auch immer - man darf keineswegs versäumen, auf die Konsequenzen des
Anhaltens dieser Entwicklung aufmerksam zu machen. Das hierzulande in
früheren Zeiten mal hoch erfolgreiche Modell der sozialen
Marktwirtschaft muss bei Anhalten dieser Entwicklung rasant weiter an
den Abgrund geraten - dies besonders dann, wenn immer mehr
Steuermittel in die Bekämpfung der Finanzkrise wandern. Sicher - es
gibt Globalisierung, es gibt Rationalisierung - beides Trends, an
denen es erstens keinen Weg vorbei gibt und zweitens stellen sie
beide eine hergebrachte wesentliche Grundlage unseres Sozialstaats in
Frage: das Lohnerwerbsmodell als gesellschaftsweiten Lebensentwurf
als Basis für unsere Sozialsysteme.
Wer
glaubt, diese Prozesse träten nun in eine Verschnaufpause ein, der
irrt grundlegend. Es ist im Gegenteil absehbar, dass uns der
Fortschritt in Informations- und Kommunikationstechnologie weiterhin
Jobschwund in steigendem Ausmaß bescheren wird. Hierzu braucht es
nur einen Blick auf den aktuell angekündigten Arbeitsplatzabbau aus
den Bereichen Banken, Versicherungen und anderer
Dienstleistungs-Branchen. Im produzierenden Gewerbe, in dem es
überwiegend noch ordentliche Jobs gibt, stagniert bzw. sinkt die
Beschäftigung bereits seit längerem. All dies wird vor allem den
heute noch mittleren Einkommensbereich am meisten betreffen - und
ganz sicher wird es keinen Beschäftigungssektor geben, der die
freiwerdende Arbeitskraft zu vergleichbaren Konditionen aufnehmen
kann. Prekäre Beschäftigung aber KANN unsere Sozialsysteme nicht
sichern.
Wer
hierzulande also weiter einen Sozialstaat will - und das dürfte wohl
noch eine große Mehrheit sein - darf sich angesichts dessen keiner
weiteren Lethargie mehr hingeben, auch wenn es ihm selbst vielleicht
noch gut geht. Er darf es nicht mehr länger allein Profiteuren und
Eliten überlassen, wohin die Reise geht - denn diese streben
naturgemäß zunächst mal nach Erhaltung ihrer Profite und
Privilegien. Und leider sind es nur solche Gleise, die längst
verlegt sind, und es sind die bisher einzigen. Woran es fehlt, sind
Visionen und wirtschaftlich wie politisch tragfähige Konzepte für
einen grundlegenden und zukunftsfesten Umbau des Sozialstaats, die
ihn wieder konform zu den sich längst schon vollziehenden
Entwicklungen machen - denn nur dann wird der Sozialstaat die
Wandlung vom gegenwärtigen Auslaufmodell zum Zukunftsmodell schaffen
können.
Hierauf
gerichtete Maßnahmen dürften sich allerdings sehr bald schon
auszahlen - denn fast sämtlichen heute noch boomenden
Schwellenstaaten stehen mittelfristig schwere soziale Verwerfungen
bevor. Gute Sozialstandards, hervorragende Bildung und Forschung,
Top-Infrastruktur, und eine radikal vereinfachten und gestraffte
Verwaltung wären die Zutaten, die man braucht, um nachhaltig
gesellschaftlichen Frieden und hohen gesellschaftlichen
Organisationsgrad zu ermöglichen und zu erhalten. Diese
Strukturelemente haben dieses Land und viele andere schon einmal -
wenn auch unter anderen Randbedingungen - weit nach vorn gebracht.
Man sollte ihnen unbedingt die Chance einräumen, es wieder zu tun...
ARTIKELENDE
|