Seite 2 von 5 Was lief falsch? Mit Anfang der 80er Jahr veränderte sich trotz weiter guter Wirtschaftslage der Arbeitsmarkt. Ziemlich rapide begannen die Arbeitslosenzahlen im damaligen Westen zu klettern und ließen bereits 1983 den Höchststand aus dem Jahre 1950 weit hinter sich. Die Wiedervereinigung sorgte für eine kurze Verschnaufpause aus westlicher Sicht - doch dann bescherte der hinzugekommen Osten mit seiner im Ergebnis mehr ruinierten als zu "blühenden Landschaften" umgebauten Wirtschaft einen weiteren kontinuierlichen Anstieg.
Eingedenk der zuvor beschriebenen Finanzierung unseres Gesundheitswesens ist unmittelbar klar, dass dieses dabei unter finanziellen Druck geraten muss. Wer nun erwartet hätte, dass sich eine nationale Kraftanstrengung formiert, all das wieder ins Lot zu bringen, wurde bitter enttäuscht - vor allem von der Politik. Diese nämlich schafft es nun schon mehr als 20 Jahre, die Öffentlichkeit über den wahren Zustand unserer Sozialsysteme im Unklaren zu halten.
So unterschiedlich die Motive dafür sein mögen - z.B. zum Ende der Ära Kohl stand sicher im Vordergrund, das völlige Misslingen der wirtschaftlichen Wiedervereinigung und dessen Auswirkungen zu verbergen, so glich sich die von der Politik jeweils daraus gezogene Konsequenz: nämlich Nichtstun.
Doch nicht nur die Politik zeigte sich unwillig, einen echten nationalen Kraftakt zur Rettung unseres Sozialwesens in Gang zu setzen. Viel heftiger noch machte sich der Wandel auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar, der den arbeitgebenden Unternehmen einen satten Zuwachs an Macht und Einfluss bescherte. Denn - der Forderung der Politik nach wieder mehr Arbeitsplätzen setzte man vor allem politische Forderungen zugunsten der Arbeitgeberseite entgegen. Diese sind in der Tat besonders beim Gesundheitssystem schwer in die Pflicht genommen. Nicht nur zahlen sie paritätisch Beitrage, sie müssen gesetzlicherseits auch für die ersten sechs Krankheitswochen eines Arbeitnehmers aus eigenen Mitteln aufkommen. Klar, dass die Großindustrie das ganze System seit jeher lieber von hinten sähe...
Mit dem ersten Entgegenkommen der Politik setzte die Erosion unseres Gesundheitswesens ein - die Lohnfortzahlung für krank gewordene Arbeitnehmer wurde begrenzt, es gab Karenztage u.v.m. Was hingegen ausblieb, waren die der Politik zugesagten Arbeitsplätze - statt dessen wurde durch regelrechte "Frühverrentungsorgien" ebenso wirkungslose wie folgenschwere Kosmetik zur offiziellen Politik geadelt. Parallel rollte eine epochale Kampagne an, deren alleiniges Ziel es ist, das Gesundheitswesen selbst als zu wenig effektiv und leistungsfähig zu diffamieren. Ein Kernträger dieser Kampagne ist bis heute die arbeitgebernahe FDP. Diese hält zwar zu jeder Frage, wieso ein privates Gesundheitswesen besser sein soll, stets eine thinktank-optimierte Antwort bereit, nicht aber zu der Frage, was ihre "Modernisierungs"-Vorstellungen mit den über 4 Mio ordentlichen Arbeitsplätzen in diesem Bereich wohl anstellen würden.
Neben der durch Verstrickung weitgehend neutralisierten Politik war da noch eine andere einflussreiche Gegenkraft zur immer mächtiger gewordenen Arbeitgeberseite: die Gewerkschaften. Auch diesen aber ging das Sozialwesen recht weit am verlängerten Rückgrat vorbei - denn angesichts weglaufender Mitglieder glaubten sie, sich vor allem über Einkommenszuwächse bei den arbeitenden Menschen empfehlen zu müssen. An einem Anstieg von Lohnnebenkosten war ihnen in seltener Einmütigkeit mit den Arbeitgebern keinesfalls gelegen. Vielmehr sah man sich genötigt, sich besonders für mittlere und obere Lohngruppen so verdient wie möglich zu machen - denn hier schlummerte das noch nicht erschlossene Potential. Also auch hier Fehlanzeige - man igelte sich auf die verbissene Verteidigung des Status Quo ein.
Hinzu gesellte sich noch eine generell zunehmende Professionalität der Anbieter-Kartelle im Gesundheitswesen, immer größere Scheiben von dem riesigen Kuchen für sich abzuschneiden. Bei Antritt der ersten Regierung Schröder stand das System somit am Rande des Kollaps. Die nach Ansicht Schröders wohl zu behäbig und vor allem nicht publikumswirksam genug agierende grüne Gesundheitsministerin Andrea Fischer wurde bei erstbester Gelegenheit durch ein SPD-Schwergewicht aus dem Seeheimer Kreis ausgetauscht - Ulla Schmidt. Und diese hob eine "Jahrhundertreform" aus der Taufe, die sich gewaschen haben sollte. Ohne den strukturellen Grundproblemen des Systems auch nur im Geringsten an die Wurzel zu gehen, hielten epochale Änderungen Einzug: die selbst verwalteten Krankenkassen sollten sich nun auf einmal "Konkurrenz" machen - wie derartiges in einem solchen System überhaupt funktionieren kann, bleibt bis heute das Geheimnis derjenigen die diesen Unsinn verbrochen haben. Eines aber funktionierte natürlich bestens. Auf breiter Front wurden nunmehr die gesetzlich Zwangsversicherten zur Sanierung herangezogen. Leistungskürzungen, Praxisgebühr und Zuzahlungen wurden eingeführt, Rentner zu - wie immer anfangs niedrigen - Beiträgen verdonnert. Diesen tiefen Einschnitt rechtfertigte man seinerzeit damit, dass hierdurch ein großes Stück Zukunftsfestigkeit gewonnen würde - was sich leider mal wieder eine der ganz großen, man ist gezwungen zu sagen, Lügen in der Politik heraus stellen sollte und den "blühenden Landschaften" Kohls da nicht im Geringsten nachsteht. Zum Dank aber haben wir diese Ministerin heute noch.
Man ersann eine Reform, die vor allem den Verbänden und Verbändchen im Gesundheitswesen noch mehr Gestaltungsraum für ihre dem System nicht unbedingt immer zuträglichen Aktivitäten schuf - epochal war sonst daran noch bestenfalls das Ausmaß des Bürokratiemolochs, der allein durch seine Arbeitsbelastung die auch nicht ohnmächtige Ärzteschaft schon in Schach halten würde. Aber wir erinnern uns auch alle an die skandalösen Steigerungen der Jahresgehälter bei Krankenkassen und Verbandsfürsten im Gefolge dieser Jahrhundert-Reform. Die wahren Strukturprobleme hingegen tastete man wohlweislich nicht an - schließlich war und ist wohl noch die große Marschrichtung, um die Wähler in der gesellschaftlichen Mitte zu buhlen. Vor allem diese hätten neben der inzwischen heiligen Kuh der Gesellschaft, nämlich den Vermögenden, für ein wirklich reformiertes Gesundheitssystem tiefer in ihre Taschen greifen müssen. Solches scheint in der zeitgenössischen Politik inzwischen wohl als eine Art Sakrileg zu gelten - und so bedient man sich viel lieber bei den Armen, Arbeitslosen und Kleinrentnern - schließlich machen die bei weitem nicht so viel Ärger.
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