Gesellschaftsbegriff
Da man Gesellschaft nicht anfassen kann - ja sogar ihre Existenz in Frage gestellt wird, soll hier zunächst einmal versucht werden, einen zeitgemäßen Gesellschaftsbegriff zu umreißen. Wir halten uns da eng an die Gegebenheiten der heute existierenden Welt. Diese ist unterteilt in Staaten, die Träger des kollektiven Handelns sind. Der Handlungsraum eines Staates wird beschrieben durch das positive Recht - positiv bedeutet dabei: aufgestelltes, gesetztes Recht - also das von Menschen gemachte Recht, was uns in Form von allerlei Gesetzen begegnet, die zu beachten den Angehörigen eines Staates bei Strafandrohung auferlegt ist.
Bereits dies, nämlich das Recht zur Bestrafung von Individuen, stellt einen Aspekt dar, der sich ohne Hinzunahme des Gesellschaftsbegriffes nicht mehr schlüssig herleiten lässt. Wer ist denn der Staat, dass er sich dieses Recht nimmt? Wer ist denn der Staat überhaupt? Überrascht stellt man fest: Der Staat ist nicht weniger ein ideelles Konstrukt wie die Gesellschaft - denn er ist nichts weiter als eine Gruppe von Menschen, die bestimmte Aufgaben erfüllen, welche für das Zusammenleben aller notwendig erscheinen. Vor allem ist der Staat heute Inhaber des Gewaltmonopols - er und nur er verfügt über ein Recht, einzelne Individuen zu sanktionieren und ihm stehen Befugnisse zu, die sonstigen Bürgern versagt sind. Zugleich ist der Staat auch faktisch Verwalter des positiven Rechts.
Dieses Recht erlegt allen, vor allem auch dem Staat selbst auf, Handlungen nur innerhalb der gültigen Gesetze vorzunehmen. Die Gesetze stellen ein hierarchisches und in sich konsistentes System von Rechtsvorschriften dar, in denen alle möglichen Belange des Zusammenlebens der Staatsbürger und insbesondere Gewalt- und Autoritätsausübung des Staates geregelt sind. An der Spitze des Rechts steht üblicherweise die Verfassung als das höchste Rechtsgut eines Staates. Insgesamt nimmt damit das positive Recht eine besondere Rolle in einem Staat ein - einerseits schränkt es den Handlungsspielraum von Individuen ein und andererseits verschafft es ihm positive Rechte im Konflikt mit Mitmenschen und vor allem im Konflikt mit dem Staatsapparat.
Bereits das Staatskonstrukt selbst ist ohne Gesellschaft nicht zu verstehen. Wieso sollte ein Staat quasi sich selbst die Arbeit schwer machen - in dem er z.B. Angeklagtenrechte beachtet - wenn er es als Rechtshüter in der Hand hat, sich da die Arbeit einfacher zu machen? Wer nichts böses getan hat, hätte doch von einer derartigen Vereinfachung nichts zu befürchten. Die Erfahrungen insbesondere mit der Fehlbarkeit einzelner Menschen sind da anders - im Mittelalter brannten Frauen bisweilen, nur weil sie unsittliche Anträge Mächtiger verschmähten. Dummheit, Habsucht, Neid, Rache und andere niedere Motive setzten ungezählte völlig unschuldige Menschen Qualen aus oder brachte ihnen den Tod - unter dem Applaus damaliger Gesellschaften.
Es ist stets etwas Besonderes an der Macht, die ein Kollektiv einzelnen Menschen überträgt. Dieses Kollektiv, die Gesellschaft, ist Geber dieser Macht. Sie erhebt die Macht zum Allgemeingut und bindet damit ihren Einsatz an gesellschaftsdienliche Zwecke. Zugleich schafft die Gesellschaft die Anerkennung der Macht durch ihre Mitglieder. Die wesentlichen Charakteristika dieses Prozesses sind für gewöhnlich in einer Verfassung niedergelegt. Diese bildet die Grundlage für den Staat - der ansonsten nichts weiter ist, als Verwalter und Ausführer gesellschaftlichen Willens.
Heutige Demokratien wären bei weitem nicht so stabil, würden die Völker sich nur irgendeine Staatsführung wählen, die fortan mit ihrer Macht und Rechtsobhut anstellen kann, was ihr so in den Kopf gerät. Das erste was eine so gewählte Führung mit dieser Machtfülle vermutlich anstellen würde, wäre, das Abschaffen der ihren Fortbestand bedrohenden Wahlen zu betreiben. Hier kommt ein mit der Demokratie untrennbar verbundener Aspekt hinzu - nämlich der der Gewaltenteilung. Auf gleich drei voneinander unabhängige Säulen, die sich gegenseitig beschränken und kontrollieren sollen, wird die Machtfülle des Staates aufgeteilt: Exekutive = Gewalt- und Autoritätsausübung, Gesetzgebung und Rechtssprechung.
Schließlich geht es um Zusammenhänge von Herrschaft und ihrer Akzeptanz bei den Beherrschten. Letztere hält man heute - anders als früher - für notwendig, weil das Individuum selbst frei entscheiden kann, was es nun tut oder unterlässt. Der Gemeinschaft insgesamt fließt dann der größte Nutzen zu, wenn das Individuum Herrschaft nicht nur duldet, sondern überzeugt hinter seiner Gemeinschaft steht und ebenso für sie eintritt. Der Sinn der Staatsbeschränkung in gewaltenteilenden Verfassungen ist geradezu, Raum für eine solche Gemeinschaft zu schaffen - Gemeinschaft zwischen verschiedenen politischen Überzeugungen, zwischen verschiedenen Gruppen, zwischen historisch verschieden gewachsenen Regionen kurzum: die Gesellschaft.
Niemand wird sich auf Dauer als Mitglied einer solchen Gemeinschaft empfinden und auch entsprechend handeln, wenn er sich gegenüber anderen in der Gemeinschaft systematisch benachteiligt sieht. Hierin lag die große Idee der Gesellschaften in den Wiederaufbaujahren - und in der Tat vollbrachten diese Gesellschaften enorme Leistungen, eben weil sie das Potential aller ihrer Mitglieder weit besser ausschöpften als alle vorangegangenen Gesellschaftsformen.