Manchmal muss man in unseren
heutigen Parademedien schon tief schürfen, um auf Vernunft zu
stoßen. Immerhin - bisweilen findet sie sich. So auch in diesem
Fall - der Stern, sonst eher wegen nicht allzu tief schürfender
Schreibe bekannt - gönnt sich mit diesem in seinem Blog
versteckten Beitrag
dann doch mal eine ordentliche Portion Vernunft und Widerspruch zu so
mancher Kurzdenke im öffentlichen Diskurs.
Das Thema ist der Amoklauf von
Emsdetten, bzw. das was unsere überaus leistungstragende Politik
daraus gemacht hat. Dabei sind Amokläufe an sich nicht neu -
neu ist lediglich, dass sie in jüngerer Zeit vermehrt von
Jugendlichen in ihrer Lebensumwelt, also an Schulen, begangen werden.
Zum Thema Amokläufe generell recht beeindruckend ist diese Liste
auf Wikipedia - dem aufmerksamen Beobachter sollte allein schon die
Verteilung der Daten ins Auge springen - die eine Zunahme ab etwa
Mitte der 80er Jahre nahe legen. Was sich mit dem Beginn des
allgemeinen Wertewandels in Richtung neoliberaler Paradigmen
frappierend deckt.
Höchst schwierig und doch
unumgänglich: die Beurteilung solcher Vorfälle aus Sicht
der Täter - hier Ursache und Wirkung zuordnen zu wollen,
scheitert in aller Regel schon daran, dass dieser in den allermeisten
Fällen für eine Beurteilung seines Geistes- und
Gemütszustandes nicht mehr zur Verfügung steht. Hier ist
man dann eher auf eine höchst schwierige Indiziensuche mit sehr
unsicheren Ergebnissen angewiesen.
Doch im Falle Emsdetten schien
unsere Politik und ein Großteil der Medien noch am Tag des
Geschehens mit der Analyse bereits fertig zu sein. Gewalt
verherrlichende Computerspiele sollen es also wieder einmal gewesen
sein. Dies klingt sehr einleuchtend und erscheint daher auch logisch
- wer sich täglich am Bildschirm im Töten übt, der
habe eben mit der Zeit auch im realen Leben eine geringere
Hemmschwelle für die Anwendung von Gewalt. So nimmt vor allem
die CDU - im Kurzdenken ja bestens geübt - jeden solcher
traurigen Fälle zum Anlass, das lange schon geforderte Verbot
solcher Spiele aus der Schublade zu ziehen.
Dabei sind die doch längst
verboten - wundert sich der aufmerksame Beobachter. So scheint es
denn auch nicht das Verbot, worauf man es abgesehen hat, sondern ein
neuerlicher Persilschein um via Internet in privaten Rechnerwelten
herum zu schnüffeln. Neu ist dies nicht - man ist hier schon in
Punkto Terrorismusabwehr höchst aktiv - wenn auch mit höchst
beschämenden Resultaten. In jüngerer Zeit stürmten
SEK's schon mehrmals eigentlich verfassungsgemäß
geschützte Wohnungen profilkonformer Menschen und griffen dabei
beidhändig ins Leere. Kollateralschäden halt...
Es ist schon traurig - da
schreiben solche Menschen Abschiedsbriefe und kündigen ihre
Taten nicht selten lange an, ohne dass sich auch nur irgendjemand
dafür interessieren würde. Im aktuellen Fall: "...
Er empfand sich selbst als Verlierer, so schreibt er in seinem
Abschiedsbrief, und er macht dafür seine Schule verantwortlich.
Das einzige, was ihm dort intensiv beigebracht worden sei: dass er
ein Verlierer sei..."
Der
Kommentator dazu in den Tagesthemen vom 20.11.2006, Udo Grätz
vom WDR, textete: "... Er wollte Rache, weil er sich als
Verlierer sah. Wir müssen uns alle fragen, wie wir mit
Verlierern umgehen. Auf dem Arbeitsmarkt, in der Schule, in der
Familie. Es darf nicht passieren, dass sich Menschen auf Dauer als
Verlierer sehen, als ewig Unterlegene, chancenlos. Denn wer sich als
ewiger Verlierer sieht, der sieht oft nur noch einen Ausweg: Gewalt.
Eine besonders schlimme Form haben wir heute im Münsterland
erlebt..." und traf hiermit den Nagel wohl eher auf den
Kopf, als jene, die mit ihren reflexartigen Rufen nach noch mehr
Verboten suggerieren, hierdurch könne irgendetwas zum Positiven
gewendet werden.
Sicher - Sebastian B. spielte
häufig Counterstrike. Doch dies trifft sicher auf 50% wenn nicht
noch mehr aller zumindest männlichen Jugendlichen zu. Selbst bei
Mädchen dürfte man - wenn auch bei Weitem seltener - fündig
werden. Vom Fall Erfurt ist dagegen sogar bekannt, dass der Täter
offenbar nur vergleichsweise selten "zockte", wie man das
heute so nennt. Irgendetwas kann an der These von den Gewaltspielen
also nicht so ganz stimmen - wäre sie richtig, müssten wir
eigentlich andauernd derartige Vorfälle haben - angesichts von
Millionen von Spielern. Hinzu kommt auch, dass die Mehrzahl der so
lauthals Verbote Fordernden nicht einmal wissen, wovon sie überhaupt
reden - weder spielen sie noch haben sie derartige Spiele je auch nur
aus der Ferne gesehen. (Counterstrike kann ich persönlich ganz
gut beurteilen, da ich es seit Längerem ab und zu mal spiele...)
Doch die öffentliche
Diskussion hierzulande scheint längst keine Realitäten mehr
zu dulden - denn für Mächtige und Mitläufer bietet
sich mal wieder eine willkommene Gelegenheit, ihre Macht noch ein
Stück weiter in den Privatbereich von Menschen auszudehnen und
vor allem auch ein guter Grund, noch mehr in das ihnen verhasste
Medium Internet einzugreifen. Und dafür scheint hier - wie in
vielen anderen Fällen auch, in denen es grundlegend um den
Zustand der Gesellschaft geht - nun bekanntlich jedes Mittel recht...
Wie
kann man Amokläufe eigentlich überhaupt charakterisieren?
Amok läuft, wer zumeist in einem psychischen Ausnahmezustand
sämtliche Hemmschwellen fallen lässt und wahllos oder
gezielt Menschen und zumeist sich selbst tötet. In diesem
Zusammenhang selten thematisiert - eine relative Nähe zwischen
Selbstmord und Amoklauf. Dabei ließe sich die These aufstellen,
ein Selbstmord ist defakto nichts wesentlich anderes als ein Amoklauf
im "Kleinen". Daneben gibt es auch eine Parallele zum
Suizid-Terrorismus - dieser erfolgt zwar immer im Sinne eines
irgendwie gearteten Ziels - doch ist auch hier die Ausgangsmotivation
ähnlich - intensiv erlebte Machtlosigkeit und die subjektive
Entschlossenheit, bis zum Äußersten zu gehen, vereint alle
drei Formen solchen Verhaltens.
Darin
unterscheidet sich das Ganze dann auch von gewöhnlicher
Kriminalität, in der das Tötungstabu und/oder andere
gesellschaftlichen Regeln zugunsten irgendeines Vorteils
überschritten werden, den der Täter für sich zu
erleben oder zu nutzen gedenkt - und dies zumeist IN der
Gesellschaft, der er angehört. Ein kurzer Blick auf Zahlen: In
der Europäischen Union begehen nach einer Meldung der
EU-Kommission aus dem Jahr 2005 jährlich 58.000 Menschen Suizid.
An anderen Todesursachen führt dieselbe Meldung jährlich
50.700 Verkehrstote und 5.350 Opfer von Gewaltverbrechen an.
Dieser
Zahlenbefund muss verwirren - woher also die große Aufregung?
Sicher - der Sensationseffekt - aber reicht der allein zur Erklärung
aus - vor allem für den sich bei solchen Anlässen
regelmäßig einstellenden politischen Aktionismus? Die
Wahrheit scheint eine andere... Solche Kontrollverluste
gesellschaftlicher Regeln nämlich sind vor allem Mächtigen
und dominanzorientieren Menschen ein Dorn im Auge - und dies erst
recht, wo sie sich mit so viel Mühe und Geld in den Besitz der
Kontrollhebel dieser gesellschaftlichen Regeln gebracht haben.
Solche
Vorgänge bedrohen ihre Macht dadurch, dass die Grenzen ihrer
Machtausübung offen gelegt werden. Das reale Risiko hingegen,
einem Amoklauf oder terroristischem Akt zum Opfer zu fallen, ist für
den normalen Menschen, wie wir oben sehen, bei ungefähr Null
anzusiedeln. Trotzdem aber werden deswegen ganze Staaten heutzutage
immer eifriger und immer perfekter zu Überwachungsstaaten
umgebaut.
Die
Message, die Mächtige gerne unterdrücken möchten, ist
nämlich die, dass Gesellschaften letztlich nichts weiter als
komplexe Übereinkünfte darstellen - Individuen schließen
sich ihnen an, weil sie in sie hinein geboren werden, es so vorgelebt
bekommen oder sie erkennen und erfahren, dass ein Leben miteinander
für alle besser ist, als eines jeder gegen jeden. Dies
funktioniert solange recht verlässlich, wie sich die
Gesellschaft und ihre Systeme auch an diesen Prinzipien orientieren.
Und
hier versagt die neoliberale Ideologie vom "Survival of the
Fittest" mit ihrem Starkult und Elitenwahn auf der ganzen Linie
- sie projiziert in diesen Trugbildern das genaue Gegenteil. Dies
wird besonders sensiblen und intelligenten Kindern schnell klar - und
es ist eine Erkenntnis, die sie einsam macht - in der Kinderwelt von
heute. Über die Medien werden besonders junge Menschen einer
noch nie da gewesenen Gehirnwäsche darüber ausgesetzt, wie
sie auszusehen haben, wie sie zu leben haben und was sie besitzen
müssen, um anerkannt zu sein.
Derartiges
hat weitreichende Folgen. Menschen meiner Generation haben früher
"Indianer" und "Räuber und Gendarm" oder
ähnliches gespielt - und die Spielregeln waren durchaus brutal.
So mancher Stein flog da an den Kopf - so mancher Stockhieb
hinterließ blaue Flecken - man schlug sich und man vertrug
sich. Aber auch Starke lernten das Ende ihrer Macht kennen - dann
nämlich, wenn sich all die Schwächeren zusammen taten und
zur Abwechslung mal sie vermöbelt wurden.
Geld?
Selten üppig - und nicht zuletzt deswegen Nebensache... Menschen
setzten sich vorwiegend mit Menschen auseinander. Eltern mischten
sich in aller Regel in diese Kinderwelten nicht ein - und wenn, war
es unter den Kindern höchst unwillkommen. Petzen galt als
schweres Delikt und als Zeichen von Schwäche. Für uns
Kinder war dieses "Spielen" - ein Stück Leben fern der
Realität, fern des Schulalltags, fern der Elternwelt... nicht
selten wichtiger als die Schule. Eine Art Labor, in dem sie ihre
Sozialisierung in Ruhe "erlernen" konnten und in der
gemachte Fehler am Tag darauf meist wieder vergessen waren.
Familiäre
Welten spielen hierbei nur eine nachgeordnete Rolle - ist dies doch
jene "Innenwelt", in der man zumeist automatisch geliebt
und geborgen war. Der junge Mensch aber sucht und strebt nach seinem
Platz außerhalb dieser Welt. Und aus dieser so wichtigen
Kinderwelt hat der heutige Konsumterror längst gemacht: Du bist
nur etwas, wenn Du das richtige und davon am besten reichlich hast.
Der
Mensch als faszinierend komplexes Wesen mit einer Unzahl
liebenswerter und weniger liebenswerter Eigenschaften findet dort
immer weniger Raum. Mit noch nie da gewesenem Druck wird in Normen
und Klischees gepresst. Für das Individuum lohnt es sich längst
weit mehr, an seinem Aussehen und seiner Stromlinienform als an
seiner Persönlichkeit und Erkenntnisfähigkeit zu arbeiten.
Unablässig
wird das irreführende Trugbild vom Götzendienst am Geld in
die Hirne junger Menschen gehämmert - und immer weniger Raum
verbleibt mehr für die freie Suche nach eigener menschlicher
Identität und Bestimmung. Auf den Amoklauf in Emsdetten
eingehend hier ein Transskript von der Website des Täters, deren
Text unvollständig war - aber dennoch eine Menge Aufschluss
gibt:
"...sie
eine Illusion war, die hauptsächlich von den Medien erzeugt
wurde. Ich merkte mehr und mehr, in was für einer Welt ich mich
befand. Eine Welt in der Geld alles regiert selbst in der Schule ging
es nur darum. Man musste das neueste Handy haben, die neuesten
Klamotten, und die richtigen "Freunde". Hat man eines davon
nicht, ist man es nicht wert, beachtet zu werden. Und diese Menschen
nennt man Jocks. Jocks sind alle die meinen aufgrund von teuren
Klamotten und schöne Mädchen an der Seite über anderen
zu stehen. Ich verabscheue diese Menschen,
nein ich verabscheue Menschen.
Ich
habe in den 18 Jahren meines Lebens erfahren müssen, das man nur
Glücklich werden kann, wenn man sich der Masse fügt, der
Gesellschaft anpasst. Aber das konnte ich wollte ich nicht. Ich bin
frei, niemand darf in mein Leben eingreifen, und tut er es doch, hat
er die Konsequenzen zu tragen! Kein Politiker hat das Recht, Gesetze
zu erlassen, die mir Dinge verbieten. Kein Bulle hat das Recht mir
meine Waffe wegzunehmen, schon gar nicht wenn er seine am Gürtel
trägt.
Wozu
das alles? Wozu soll ich arbeiten? Damit ich mich kaputt mache um mit
65 in den Ruhestand zu gehen und 5 Jahre später abzukratzen?
Warum soll ich mich noch anstrengen, um irgendetwas zu erreichen,
wenn es letztendlich sowieso für'n Arsch ist weil ich früher
oder später krepiere?
Ich
kann ein Haus bauen, Kinder bekommen und was weiß ich nicht
alles. Aber wozu? Das Haus wird irgendwann abgerissen, und die Kinder
sterben auch mal. Was hat denn das Leben bitte für einen Sinn?
Keinen! Also muss man seinem Leben einen Sinn geben und das mache ich
nicht, in dem ich einem überbezahlten Chef im... "
In erschütternder Offenheit
und Klarheit steht hier zu lesen, was in Sebastian B. vorging -
genauer formuliert bereits vorgegangen war. Er hatte - vermutlich
nicht einmal unzutreffend - über das ihm bevorstehende Leben
geurteilt. Die Abgeklärtheit und Entschlossenheit, mit der er -
in seinen Augen - die Vollendung seines Lebenswerk vorbereitet,
kündigt sich bereits an.
So scheint es allein dem Zufall
zu verdanken, dass es "nur" 30 Verletzte gab. Jeden dieser
Verletzten hatte er töten wollen - war sich vermutlich allein
über die begrenzten Möglichkeiten seines dürftigen
Waffenarsenals nicht ausreichend im Klaren. Das Stichwort "Jocks"
im Text oben baut denn auch die Brücke zu Columbine - jenem
Fanal, dem er nachzueifern gedachte.
Es ist unbestritten, dass bei
Sebastian B. erhebliche und tiefgreifende Störungen vorgelegen
haben - aber ebenso einsichtig dürfte sein, dass sein
Computerspiel hierbei keine Rolle spielte. Wenn es überhaupt
sinnvoll oder möglich sein sollte, in einem solchen Fall nach
Schuldigen zu suchen, so dürfte die Frage nach den veränderten
Prinzipien gesellschaftlicher Machtausübung wohl eher im
Vordergrund stehen. Neuerliche Verbote und Schnüffelaktionen
werden hier höchstens - und das vorhersehbar - zu noch weiterer
Verschlechterung beitragen.
Schließlich wollen wir
nicht außer Acht lassen, dass Sebastian B. genau zu jedem
Zeitpunkt zur Durchführung seiner Tat aufbrach, als ihm wenige
Tage später seine Verurteilung - und damit die Vernichtung
seiner noch jungen Existenz - wegen illegalen Waffenbesitzes bevor
stand. Natürlich ist es in Ordnung, dass der Staat derartiges
nicht duldet - aber nicht in Ordnung ist es, wenn er aus diesem
Vorfall eine Berechtigung konstruieren will, die Privatsphäre
unbescholtener Menschen noch mehr zu perforieren.
Gesellschaft und Staat müssen
ihre Regeln und Rechtsprinzipien selbst vorleben und für alle
erkennbar auch genauso gegenüber Mächtigen und Reichen
durchsetzen, wie gegenüber Armen und Ohnmächtigen. Schöne
Worte und Sonntagsreden genügen hier nicht - Gerechtigkeit hat
universell und ohne Ansehen der Person gewährt zu werden und
kann durch "Chancengerechtigkeit" niemals ersetzt werden.
Sie muss für Menschen erlebbar sein, um wahr genommen und
anerkannt zu werden.
Menschen sind Bestandteil der
Realität und sie nehmen diese so wahr, wie sie ihnen entgegen
tritt. Im Fall Emsdetten lag denn wohl auch eindeutig hier der lange
aufgestaute Auslöser für das tragische Ereignis, wobei
offen bleiben muss, ob der Vorfall überhaupt verhinderbar war.
Auf jeden Fall aber sollte dies der Politik und nicht zuletzt auch
den Medien weit mehr und anderes zu denken geben als ein
kurzgedachtes... "Eine neues Spieleverbot muss her..."
CogitoSum
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Lebenswelten: Medien - Computerspiele:
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