Die
sechs Monate der deutschen EU-Ratspräsidentschaft stehen bevor.
Für die alles andere als strahlend dastehende Kanzlerin Merkel
(CDU) eine der vielleicht wenigen Chancen, das ramponierte Image der
von ihr geführten Koalitionsregierung noch ein wenig
anzuhübschen. Für CogitoSum ein Grund, sich einmal
eingehender dem Thema Europäische Einigung zuzuwenden - welches
man aus der Perspektive demokratischer Legitimierung derzeit wohl als
eines der traurigsten Themen im Europa nach dem zweiten Weltkrieg
ansehen muss.
Mit
Kleinigkeiten indes will sich Frau Merkel offenbar nicht aufhalten -
man hat sich auf kein geringeres Ziel verständigt, als die vor
sich hin dümpelnde EU-Verfassung wieder flott zu machen. Diese
liegt nach den Referendumspleiten in Frankreich und den Niederlanden
nämlich praktisch auf Eis. So setzte sich dann auch pünktlich
zum herannahenden Termin des Antritts der deutschen
EU-Ratspräsidentschaft eine Initiative
in die entsprechende Richtung in Bewegung. Natürlich - ganz nach
Merkels Art - nicht etwa von Deutschland ausgehend, sondern von den
eher ebenso kleineren wie unverdächtigen EU-Partnern Spanien und
Luxemburg.
Dennoch
warf dies sogleich Fragen auf und vor allem in Frankreich und den
Niederlanden wurde Verärgerung laut, noch bevor Merkel sich
überhaupt offiziell ans Werk gemacht hat. Es ist eben schon eine
besondere Sache mit dieser "EU-Verfassung". Das Wichtigste
vorneweg: Sie ist gar keine Verfassung. Sie ist, salopp formuliert,
zunächst einmal ein Vertrag zwischen den Regierungen der
EU-Staaten - die jede für sich bekanntlich nur die Zustimmung
eines Teils ihres Wahlvolkes hinter sich wissen und sich so eben mal
en passant das "Regieren" etwas leichter machen wollen.
Von
solchen Verträgen haben wir bereits eine ganze Menge - und viele
davon gelten als völkerrechtlich verbindlich. Die ganze EU
basiert derzeit auf derartigen Mechanismen. Schon heute "regiert"
die EU auf dieser Basis erheblich in die Nationalstaaten hinein - vor
allem im Bereich der Wirtschaft und des Wettbewerbsrechts. Und doch
ist etwas neu an diesem Vertrag. War bislang das Prioritätsverhältnis
zwischen solchen Verträgen und den Verfassungen in letzter
Konsequenz ungeregelt, soll für diesen Vertrag im Konfliktfall
erstmals ein Primat zumindest dieses Vertrages über die
Verfassungen einzelner Länder verankert werden.
Diese
Konstruktion ist wirft einige hoch wichtige Fragen auf. Die Erste
dürfte die nach der demokratischen Legitimation dieser
Rechtsform sein - denn die EU in ihrer heutigen Struktur ist alles
andere als eine homogene demokratische Struktur. Es gibt zwar ein
Parlament - das bekannte Wanderparlament von B-Politikern, das
andauernd zwischen Brüssel und Straßburg umherwandert -
aber dessen Rechte und Einflussmöglichkeiten sind mit denen
nationaler Parlamente schlicht nicht vergleichbar.
Die
starke Stellung der EU-Kommission wird durch den Verfassungsvertrag
kaum angetastet - lediglich ihr Präsident soll künftig
durch das EU-Parlament gewählt statt wie bisher durch die
Mitgliedstaaten ernannt werden. Die EU-Kommission steht weiterhin der
Exekutive vor, wird nur in geringem Umfang Haushaltskompetenzen an
das Parlament abtreten müssen und verfügt weiterhin über
ein fast ausschließliches Initiativrecht in der Gesetzgebung.
Somit
hält sich der dem EU-Parlament bescherte Machtzuwachs in sehr
überschaubaren Grenzen. Die EU-Politik wird im wesentlichen
weiter von der EU-Kommission mit ihrer Bürokratie und vom Rat
der EU (früher EG-Ministerrat) geprägt werden, in denen die
Regierungen aller EU-Staaten vertreten sind, und der als das
wichtigste Organ der EU für politische Beschlüsse gilt.
Diese Struktur schafft eine enorme Machtfülle der
Nationalregierungen und der im wesentlichen von ihnen bestimmten
EU-Bürokratie, der aber auf EU-Ebene praktisch keine
institutionalisierte Opposition und damit kaum wirksame Kontrolle
gegenüber steht. In den für die Nationalregierungen
maßgebenden politischen Prozessen indes geben weiterhin
nationale Aspekte vorwiegend den Ausschlag.
War
diese Asymmetrie der Macht wegen des begrenzten Einflussbereichs der
EU in der Vergangenheit noch halbwegs tolerabel, wird der
Verfassungsvertrag die Zuständigkeiten der EU erheblich
ausweiten - angefangen von der gemeinsamen Sicherheits- und
Außenpolitik bis tief in die Wirtschafts- und Sozialsysteme
hinein. Schon heute finden sich gelegentlich achselzuckende
Politiker, die der Frage nach ihrer Verantwortung mit Hinweis auf die
EU ausweichen. Für den Wähler indes bleibt nahezu völlig
intransparent, wie er bei diesem Katz- und Mausspiel seine Interessen
überhaupt noch artikulieren und durchsetzen können soll.
Ich
kann nur jeden ermuntern, sich dieses ermüdende und fast 500
Seiten lange Dokument dennoch genauestens anzusehen - hier kann man
es herunterladen: http://europa.eu/constitution/print_de.htm.
Der Vertragsentwurf beginnt mit einer "Sozialcharta", die
sich zwar recht nett liest, die aber in entscheidenden Punkten
merkwürdig unpräzise bleibt, sodass sich durchaus die Frage
aufdrängt, ob dies auf lange Sicht als Ersatz für knallhart
verfassungsgemäß verbriefte Grundrechte überhaupt
taugt.
Mindestens
ein Nebenzweck der vorangestellten gut hundert Artikel der
Sozialcharta scheint denn auch eher, den Leser derart zu ermüden,
dass er bei den folgenden über 300 Artikeln nicht mehr so genau
hinsieht. Denn vor allem in den hinteren Teilen findet sich der
erstmalige Versuch, Eckpfeiler einer dereguliert neoliberalen
Wirtschaftsordnung praktisch in Verfassungsrang zu erheben. Noch
selten enthielt eine Verfassung derart viele Festschreibungen für
das Wirtschaftssystem - und die möglichen Auswirkungen dieses
Umstand sind völlig unvorhersehbar.
Definitiv
fehlt die Festlegung, dass auch in der EU alle Macht vom Volk ausgeht
(was sie derzeit auch nicht tut) sowie die Festschreibung
entsprechender Strukturen dazu. Eine Gemeinwohlbindung von Eigentum
z.B. wurde völlig unterschlagen - dafür aber seine
uneingeschränkte Vererbbarkeit garantiert. Der
Verfassungsvertrag ist im Hinblick auf klassische
Verfassungsprinzipien bestenfalls eine Art Experiment -
Gewaltenteilung ist nur in Ansätzen und dann zumeist halbherzig
erkennbar. Gänzlich und nahezu unangreifbar abgesichert ist
hingegen das weitgehend freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte.
Der
Verfassungsvertrag soll der EU insgesamt eine verbesserte
Handlungsfähigkeit bescheren - dies aber leider vorwiegend für
die Interessen der Wirtschaft sowie auf eher weniger begrüßenswerten
Gebieten wie Außen- und Verteidigungspolitik. Hier sollen
diverse Arten von Mehrheitsvoten an die Stelle der bislang notwendige
Einstimmigkeit bei Entscheidungen treten. Für Änderungen am
neuen und noch unerprobten Verfassungskonstrukt selbst indes wird es
weiterhin der Einstimmigkeit bedürfen. Hiermit werden die
bereits im Vertrag enthaltenen Regelungen zu einem praktisch kaum
noch angreifbaren Status Quo nahezu ohne Chance auf
Weiterentwicklung.
Die
ebenso deutliche wie bedenkliche Straffung der Regelungen in der
gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik bringen denn auch die
meisten Friedens- und Antikriegsbewegungen gegen diesen Vertrag in
Stellung. Doch mehr als durch solche - teilweise vielleicht auch
behebbaren - Defizite ist der Wert der "EU-Verfassung"
durch die Art ihres Zustandekommens in Frage gestellt. Unter den
Rechtskonstrukten spielt die Verfassung stets eine herausragende
Rolle - hierzulande ist sie das ranghöchste Rechtskonstrukt
überhaupt. Prinzipiell steht die Verfassung dem
Gesellschaftsvertrag einer Gesellschaft am nächsten - daher muss
sie klar, einfach und möglichst widerspruchsfrei formuliert
sein.
Unser
Grundgesetz entspricht diesen Anforderungen einigermaßen -
vergleichbares kann man von dem EU-Vertrag in keiner Weise behaupten.
Es gibt einen wüsten Mix aus generellen Bestimmungen und
unzähligen Relativierungen sowie häufige Verweise auf
nationales und einige offene Widersprüche. Allein die lange
Liste der Zusatzprotokolle lässt einen erschaudern. Schlimmer
noch ist, dass dieser Verfassung ja nicht eine Gesellschaft zugrunde
liegt, sondern derzeit noch 25 verschiedene - mit völlig
verschiedenen Traditionen in Politik und Sozialwesen. Damit geht
diesem Vertrag eine wirksame Einbindung in demokratisch hinreichend
legitimierende Strukturen fast völlig ab.
Ein
Vertrag, der Reichen und Starken "Freiheit" garantiert und
zugleich die Rechte der Armen und Ohnmächtigen relativiert, ist
schlicht nicht würdig, Verfassung zu werden. Ein solches Recht
KANN nicht gerecht und mithin auch nicht sinnvoll sein - hier
bestimmt der Zufall des Einzelfalls wie sich die EU-Verfassung im
Rechtsalltag auswirken wird. Das vorhersehbare Ergebnis dieses
Vertrages ist denn auch - freie Bahn für Wirtschaftsliberalismus
und schlimmer noch - ausgehöhlte Nationalverfassungen. In der
Summe gibt das sehr viel Handlungsraum für bereits Mächtige
bei zugleich verstümmelter Schutz- und Ausgleichsfunktion, die
insbesondere bei einer Verfassung so sehr wichtig ist.
Ein
weiteres schwerwiegendes Argument gegen den EU-Vertrag ist die Art
seines Zustandekommens. In einigen Ländern ist dem Souverän
das Recht eingeräumt, darüber abzustimmen - in anderen -
z.B. hierzulande - wurde dies dem Souverän, d.h. dem Volk,
vorenthalten. Dieser Umstand ist hierzulande als verfassungswidrig
einzustufen - und doch klagte nur ein Parlamentarier gegen die Art,
in der Deutschland den EU-Verfassungsvertrag ratifizierte: Peter
Gauweiler (CSU).
Geradezu
erschreckend dieses Armutszeugnis für unsere politische Elite -
zumal eine Ursache für die Gauweiler-Klage im nach seiner
Ansicht nicht hinreichend berücksichtigten Gottesbezug der
EU-Verfassung liegt, was allgemein eher umstritten sein dürfte.
Bundespräsident Köhler indes unterschrieb - wegen der
Gauweiler-Klage - das von Bundestag und Bundesrat durchgewunkene
Ratifizierungsgesetz zu diesem EU-Vertrag noch nicht. Tragisch für
die gesamte Politik in Deutschland ist, dass unsere angeblich so
leistungsfähige politische Elite nicht mehr zustande brachte.
Dabei heißt es in unserem Grundgesetz unmissverständlich:
Artikel
146
Geltungsdauer
des Grundgesetzes
Dieses
Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit
Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine
Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt,
die von dem deutschen Volke in freier
Entscheidung beschlossen worden ist.
Unser
Grundgesetz ist im Allgemeinen höchst präzise darin, zu
beschreiben, wer wann was zu entscheiden hat - wäre hier mit
Entscheidung die Parlamentarische Vertretung des Volkes gemeint, so
sollte es schon auch da stehen - tut es aber nicht. Dort steht
eindeutig: der Souverän ist es, der hier über eine neue
Verfassung zu entscheiden hat - und das frei!
Es
ist schon ein Alarmsignal für den Stand der Demokratie in
Deutschland und Europa, dass einem in deren größter Nation
allein die Hoffnung auf ablehnende Referenden in kleineren Ländern
blieb, wenn man mit diesem Vertrag nicht einverstanden ist. Die
anhängige Klage wird derweil beim Bundesverfassungsgericht vor
sich her geschoben - mit dem Argument, dass das Ratifizierungsgesetz
ja noch nicht in Kraft getreten sei - und mithin der Klagegrund noch
nicht vorliege. Kafka lässt grüßen.
Aus
Sicht eines geordneten Prozesses zur Bildung einer modernen und
gesellschaftlich legitimierenden Verfassung ist dem gegenwärtigen
EU-Vorgehen eine klare Absage zu erteilen. Umso trauriger, dass
unsere ohnehin nicht besonders glücklich agierende Kanzlerin
ausgerechnet diese heiße Kartoffel zum Demonstrationsobjekt
ihres politischen Geschicks küren musste. Zumal die aktuelle
Initiative unter der Überschrift steht "Dabei muss die
Substanz des Textes so erhalten bleiben, wie er in unseren Ländern
ratifiziert wurde."
Die
hohe Attraktivität des gegenwärtigen Pläne für
Politiker vieler Länder indes mag manchen verwundern - sollte
aber nach unserer vorangegangenen Analyse relativ leicht zu
dekodieren sein. Für die großen Regierungsparteien der
Nationen sowie für die Großkonzerne der Wirtschaft nämlich
werden geradezu paradiesische Verhältnisse geschaffen. Die
Wirtschaft profitiert von enormen rechtlich garantierten Freiräumen
sowie von der Schwächung der politischen Gegenkraft auf
Nationalstaatsebene - und die nationale Spitzenpolitik kann sich
ihrer EU-Macht fast ohne demokratische Kontrolle erfreuen.
Ein
Blick allein auf die Zahl der Lobbyisten unterstreicht diese
Einordnung eindrucksvoll: geht man am Regierungssitz der stärksten
Volkswirtschaft in der EU - Berlin - von rund 8.000 dieser
fragwürdigen Interessenvertreter aus, werden für Brüssel
Zahlen um 25.000 und mehr gehandelt. Ein schon etwas zurückliegender
Artikel
in der FAZ, den man dort bezeichnenderweise unter die Rubrik
"Wirtschaft" einordnete, textete zumindest in seiner
Überschrift völlig zutreffend: "Europa bleibt ein
Projekt der Eliten..." - und man müsste eigentlich ergänzen
"... und nicht eines der Völker."
Kanzlerin
Merkel jedenfalls hat sich viel, wenn nicht gar Unmögliches
vorgenommen. In Frankreich will man von einem Wiederaufleben des
Verfassungszanks angesichts der anstehenden Präsidentschaftswahlen
gar nichts wissen: "Glauben Sie mir, das Ganze verdient nicht so
viel Aufmerksamkeit", meinte Chirac angesichts der neuerlichen
Initiative. Auch der Niederländer Balkenende reagierte
irritiert. "Der Vertrag ist in seiner jetzigen Form
inakzeptabel". Auch flugs herbei gezauberte - nunmehr natürlich
Zustimmung in FR und NL andeutende - Meinungsumfragen dürften
hier wenig ausrichten.
So
bleibt Merkels Engagement nicht viel mehr als ein weiterer Beweis
dafür, wie schwer sich die Politik-Eliten und die mit ihr
verbundenen Wirtschaftsgrößen damit tun, nunmehr langsam
Abschied von dem europaweiten kalten Staatsstreich via EU-Verfassung
zu nehmen. Intelligentere Politiker haben sich dagegen längst
arrangiert - wenn das mit der Verfassung nichts werde, müsse man
eben so weiter machen, wie bisher. Und das ist vielleicht nicht schön
aber richtig so - denn es kann schlicht nicht angehen, dass mitten in
Europa mit all seiner demokratischen Tradition ein derart schwach
legitimiertes Projekt reussiert.
In
Großbritannien ist die EU-Verfassung eh nicht mehrheitsfähig,
Frankreich hat sie abgelehnt - die wahre Haltung des deutschen Volkes
ist nicht bekannt, weil man es erst gar nicht gefragt hat...(auch
wenn bezahlte Meinungsumfragen angeblich Zustimmung signalisieren...
was ich stark bezweifele) Einem in Zukunft noch zu bildenden
vereinten Europa sollte eigentlich niemand, der noch bei Verstand
ist, einen derart verkorksten Start wünschen. Die Völker
Europas leiden doch heute bereits unter jenen Machtasymmetrien, die
sich zugunsten der undemokratischen Wirtschaft entwickelt haben.
Wenn
Europa langfristig zu einer Nation zusammenwachsen soll - und dies
ist nun mal staatsphilosophisch die unerlässliche Voraussetzung
für die Legitimierung europaweiter Macht - sind zunächst
einmal die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Menschen in
allen Ländern der EU Schutz vor Machtasymmetrie geboten wird -
in Deutschland ebenso wie in Litauen oder Tschechien. Wie sehr die
Schaffung von jedweden Sonderzonen in die Hose gehen kann, sollten
gerade besonders wir Deutschen und unter diesen besonders unsere aus
dem Osten stammende Kanzlerin besser wissen, als jede andere Nation
in Europa - und nicht einmal hierzulande war man bislang imstande,
das Problem auch nur ansatzweise zu lösen.
Der
einzig mögliche Gegenspieler einer deregulierten Wirtschaft
indes kann nur der Staat sein. Im Hinblick auf die gegenwärtigen
Europapläne bleibt festzustellen - bevor es diesen Gegenspieler
praktisch nicht mehr gibt, ist der Fortbestand des Status Quo immer
noch die deutlich bessere Variante. Der vorliegende Vertragsentwurf
gehört damit eigentlich längst in die Mülltonne.
Für
keine Verfassung dieser Welt macht es Sinn, denjenigen, die ohnehin
über Macht und Einfluss verfügen, ihre privilegierte Lage
auch noch abzusichern. Zu Schützen sind zunächst einmal die
Armen und Ohnmächtigen - und nicht die Reichen und Mächtigen.
Ansatzpunkt eines neuen zukunftsweisenden EU-Projektes kann daher
auch nur die zeitgemäße Neudefinition des demokratisch
legitimierten und sozial gerechten Staats sein. Ein Staat, der von
der Wirtschaft ihren gerechten Beitrag zum Gemeinwesen auch
eintreibt, den sie ihm schuldet - ohne ihr Ausweichmöglichkeiten
in Billiglohnländer oder Steuerparadiese zu bieten. Eine
europaweit tragfähige Vision hierzu mag noch ausstehen - dies
aber sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass wir aus der
Geschichte einen Weg sehr genau kennen, auf dem dieses Ziel mit
Sicherheit niemals erreicht wird - der ungezügelte Kapitalismus.
Eine
der epochalen Lügen des Neoliberalismus steht nämlich
weiter im Raume - alle heutigen Verwerfungen seien allein der
Weiterentwicklung zu blühenden und prosperierenden
Gesellschaften geschuldet und der freie Markt werde es schon richten.
Dies ist allein deshalb schon die Unwahrheit, weil es den "freien"
Markt so wie er neoliberalen Theorien zugrunde liegt, längst
nicht mehr gibt. All diese Theorien ignorieren fahrlässigerweise
Machtaspekte - Unternehmen rangeln doch längst nicht mehr via
freiem Marktwettbewerb miteinander, sondern über Praktiken wie
politische Einflussnahme, Bestechung, Dumping, Preisabsprachen und
Finanztransaktionen. Das ist die Realität im 21. Jahrhundert.
Die
EU wird nur zu einer legitimierten Gesellschaft finden können,
wenn auf diese Entwicklungen eine gleichermaßen visionäre
wie wirkungsvolle Antwort gefunden wird. Ein Erster Schritt dazu
wäre, europaweit gültige Sozialstandards in Angriff zu
nehmen - Höchstarbeitszeiten, Mindestlöhne, Sicherheit vor
Not und Armut, ordentliche Gesundheitsversorgung, menschenwürdiges
Alter, kostenfreier Zugang zu Bildung, Unterstützung in der
Kindererziehung, umweltgerechtes und nachhaltiges Wirtschaften sowie
eine gerechtere Verteilung der kollektiven Leistung sind die
zentralen Punkte, in denen es innerhalb der EU mittelfristig keine
Gefälle mehr geben darf, die immer wieder Wasser auf die Mühlen
ausbeuterischer Strukturen lenken.
Bei
einer solchen Vision des künftigen Europas wird um die
Zustimmung seiner Völker nicht mehr zu fürchten sein - und
nur sie eröffnet langfristig den Weg zu einem wirtschaftlich,
politisch und intellektuell starken Europa mit Überzeugungskraft,
das sich auch konstruktiv an der Lösung der Probleme der Welt -
und nicht nur mit Kanonenbootpolitik - zu beteiligen vermag. Was die
deutsche EU-Ratspräsidentschaft in dieser Hinsicht zu leisten
vermag ist offen - beklemmend aber ist die Befürchtung, dass sie
mit den Kanonenbooten offenbar weit besser zurecht kommt, als mit den
wirklich an die heutige Politik gestellten Herausforderungen.
ARTIKELENDE
CogitoSum
- Beitragskritik:
Politik
- Europa:
Recht
- Hintergründe:
Gesellschaft
- Streitschriften:
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