In
diesen Tagen setzt sich die Frankfurter Rundschau recht intensiv mit
dem gegenwärtigen Zustand in der bundesdeutschen Gesellschaft
auseinander. Mehrere überwiegend recht kurze Artikel (Link,
Link,
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behandeln das Thema aus verschiedenen Perspektiven und Brigitte
Fehrle, stellvertretende Chefredakteurin, kommentierte. Dieser
Kommentar
fiel zwar recht kurz aus - beinhaltet aber einige Aspekte, die man
andernorts in unseren Medien meist vermisst. Insgesamt aber durchweht
die Behandlung des - aus unserer Sicht - extrem wichtigen Themas
immer noch ein deutlich spürbarer Hauch des Zauderns und Zagens.
Wir bei CogitoSum können es uns - ohne Rücksicht auf
Anzeigenkunden und sonstige Klientel - erlauben, da etwas deutlicher
zu werden.
Vermutlicher
Auslöser des Ganzen: Die CDU-Politiker Ole von Beust und Volker
Kauder haben einen Umbau des Sozialstaats hin zu einer
"Aufstiegsgesellschaft" gefordert. Zielperspektive: eine
Aufstiegsgesellschaft, die.. "...sich an jeden richtet und nicht
nur an bestimmte Gruppen, die niemanden ins Bodenlose fallen lässt,
sondern existenzielle Lebensrisiken absichert, und die in Köpfe
und Fähigkeiten investiert, nicht in Status..."
Soweit
sind die schönen Worte der Kauder-Beust-Initiative zunächst
einmal nicht unbedingt zu kritisieren. Sie beschreiben ja jenen Kern,
über den zu allen Zeiten eigentlich nur gesellschaftsweiter
Konsens bestanden haben kann. Gleichwohl aber läuft die
Entwicklung hierzulande schon seit Jahren so gar nicht in diese
Richtung. Und genau diese Erfahrung ist es, die uns warnen sollte,
den Herren Kauder und Beust in ihrem Ziel der
Sozialstaats-Substitution leichtfertig zuzustimmen, bevor Ziel und
Weg genauestens analysiert sind. Der Rest unseres demolierten
Sozialstaats ist nämlich das Einzige, was Millionen hierzulande
überhaupt noch zum Leben haben.
Was
soll das eigentlich im Hier und Heute sein - eine
Aufstiegsgesellschaft? Wenn Kauder und Beust damit meinen - noch mehr
Förderung der angeblich Leistungsfähigen und noch mehr
Vernachlässigung der angeblich weniger Leistungsfähigen,
dann können sie ihre Aufsteigergesellschaft gleich unter sich
ausmachen. Die Vision bedeutet dann nämlich nichts anderes, als
eine mühsam kaschierte neuerliche Offensive gegen den
Rest-Sozialstaat, was dann auch in diesem Artikel
deutlich wird. Hier nämlich detektieren die Herrschaften
gemutmaßtes Einsparpotential bei Transferleistungen doch allen
Ernstes als Finanzquelle für ihre epochale Aufsteigeroffensive.
Absurder geht es kaum noch...
Man
kann sich über die CDU nur noch wundern - In diesen Tagen
gleicht sie immer mehr einem Führungsbunker, in dem wohl
behütete Generalstäbler Divisionen umher kommandieren, die
es außerhalb des Bunkers längst nicht mehr gibt. In
historisch schon ein mal da gewesener Realitätsverweigerung will
man dort offenbar weder die längst krisenhafte Lage zur Kenntnis
nehmen noch den Anteil der eigenen falschen Politik in Vergangenheit
und Gegenwart daran wahrhaben.
Was
und wo bitte wollen die Herrschaften noch etwas aus den Empfängern
von Transferleistungen im Lande heraus pressen? Nein, verehrte
Herrschaften, hier ist nichts - aber auch gar nichts - Nennenswertes
mehr zu holen, wenn in einem der reichsten Länder der Welt
demnächst nicht wieder Menschen auf offener Straße
verhungern sollen.
Transferleistungen
sind nicht Luxus für eine Gesellschaft sondern sie sind der
Stamm, an dem die gesamte Gesellschaft empor wächst. Je mehr man
diesen einschnürt, umso weniger wird letztlich beim längst
unorganisch großen Blatt- und Blütenwerk der oberen Etagen
ankommen können. Übertreibt man es gar mit dem Einschnüren,
besteht die Gefahr dass der Stamm morsch wird - und irgendwann reicht
die kleinste Sturmböe, um den ganzen Baum mitsamt all seiner
Blütenpracht zu Boden krachen zu lassen.
Um
im Bild zu bleiben - es ist allerhöchste Zeit, dass das Blatt-
und Blütenwerk auf ein sinnvolles Ausmaß zurück
gestutzt wird, denn Blüten sind zwar schön anzusehen - zu
Gesundheit und Stabilität des ganzen Baumes indes tragen sie
weit weniger bei, als sie ihm an Kraft nehmen. Mit dieser Erkenntnis
tut man sich - besonders bei der Union - schwer. Damit ist die Frage
nach dem Stand der sozialen Schlacht bereits vollständig
beantwortet - und auch die flugs herbei gezauberte Wunderwaffe
"Soziale Kapitalpartnerschaft" kommt unabhängig von
der Frage nach ihrer möglichen Wirksamkeit auf jeden Fall zu
spät.
Über
neue Modelle der CDU mit dem Zusatz "Sozial" sollte man
sich eigentlich erst dann wieder unterhalten, wenn diese Partei
dereinst mal wiederentdeckt hat, was dieses Wort eigentlich genau
bedeutet. Und das kann nach Lage der Dinge noch dauern... Vermutlich
wird dies erst dann geschehen, wenn der Gefechtslärm bereits
durch die dicken Türen und Wände im Inneren des Bunkers
widerhallt.
Da
kommt Brigitte Fehr von der Frankfurter Rundschau der wahren Lage
schon näher - deshalb hier ein Zitat ihres Kommentarabschlusses:
"...Der Streit fängt an, wenn die Politik beides will.
Status erhalten und Chancen schaffen. Darf man den einen etwas
wegnehmen, um den anderen eine Zukunft zu eröffnen? Darf man
Risiken und Chancen also gleichmäßiger verteilen? Die
Antwort heißt: Man muss. Anders wird es nicht möglich
sein, in diese Gesellschaft wieder - nicht Aufstiegswillen -
Zukunftshoffnung zu bringen. Und das muss gar nicht mehr bedeuten als
das Wissen, dass man mit Arbeit, egal welcher, sein Auskommen sichern
kann..."
Überraschend
klar und deutlich - lediglich über das "egal welcher"
lässt sich diskutieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es
Menschen begeistert, statt heute 3-mal künftig 6-mal täglich
von irgendwelchen Callcentern angerufen zu werden, um mit dem überaus
wichtigen Akt des Erwerbs eines SKL-Loses konfrontiert zu werden. Und
selbst ein wirklich brauchbarer Job nutzt wenig, wenn man fürchten
muss, ihn morgen schon wieder los zu sein. Für beschönigendes
Politikergeschwall gänzlich unerreichbar dürften indes
Menschen sein, die - wie bei BenQ - vor Jahresfrist noch in der
Hoffnung auf Erhalt ihrer Arbeitsplätze auf 30% ihres Lohnes
verzichteten und dennoch demnächst auf der Straße stehen
werden.
Längst
rächen sich künstlich aufrecht erhaltene Märchen von
Vollbeschäftigung und den Segnungen wirtschaftsfreundlicher
Politik. Längst rächt sich die jahrzehntelange Verweigerung
durchgreifener Strukturreformen. Längst rächt sich die
bewusst interessengeleitete Verzerrung der Realität im Land. So
sehr man es auch versucht - Aufschwünge lassen sich eben nicht
herbei reden. Hier in der Region z.B. ging die Anzahl der offenen
Stellen seit November um über 10% zurück und überhaupt
wäre der angeblich bundesweite Zuwachs an offenen Stellen erst
einmal genau zu analysieren, bevor man ihn feiert.
Was
soll dieser Unsinn? Wir haben nun mal so oder so definitiv zu wenig
Arbeitsplätze für all die Arbeitslosen. Und hier sind
Lösungen gefragt und nicht weitere Vertuschungsaktionen. Da
helfen weder 1€-Jobs noch statistische Kosmetik noch Lohnsenkungen
- Und vor allem: eine Arbeit von der man nicht leben kann, ist eben
keine Arbeit in gesellschaftlichen Sinne. Dass Menschen sie in ihrer
Not dennoch verrichten, sollte allenfalls Anlass zu Scham statt zu
befriedigtem Grinsen in Sinn'schen Gesichtern geben.
Die
Leistungsfähigkeit einer modernen Gesellschaft steht und fällt
der Effizienz ihrer Prozesse, das vorhandene Leistungspotential in
der Bevölkerung auszuschöpfen. Dass es genau da heute
gewaltig hapert, dürfte zu den best gehüteten Geheimnissen
des Landes gehören. Wer den Arbeitsmarkt durcheinander wirbelt,
Berufe durch verfehlte Arbeitsmarktgesetze zerstört, und nicht
zuletzt - wer sich immer mehr aus Ausbildung von Berufsanfängern
und Einarbeitung von Berufswechslern zurückzieht - der sollte
sich eigentlich schämen, zugleich angeblichen Fachkräftemangel
zu beklagen. Vor allem, wenn noch zigtausende auf den Straßen
stehen, deren einziger Makel das Überschreiten des 45-ten oder
50-ten Lebensjahres zu sein scheint - und denen man dann noch das
Rentenalter heraufsetzt.
Hinter
der Sehnsucht von Kauder und Beust nach einer Aufstiegsgesellschaft
steht denn wohl auch die eher gefühlte denn bewusst
wahrgenommene Erkenntnis, dass wir nach über 50 Jahren
Nachkriegsgeschichte geradezu alarmierende Verkrustungserscheinungen
zu beklagen haben. Die gewachsene Asymmetrie in der Verteilung von
Macht, Einfluss und nicht zuletzt auch Reichtum übersteigt
inzwischen jedes vernünftiges Maß und beschleunigt sich
sogar noch.
Was
hier inzwischen auf dem Spiele steht, sind nicht etwa ein paar Euro
mehr oder weniger für diese oder jene Gruppe. Längst stoßen
die gesellschaftlichen Fliehkräfte in Bereiche vor, in der die
breite Zustimmung zur Gesellschaft und damit auch ihren Regeln
abhanden zu kommen droht. Unsere Gesellschaft braucht nicht
Aufstiegswillen, sondern zunächst einmal die Rückeroberung
der Hirne und Herzen der Menschen.
Und
da wundert sich mancher Politiker heutzutage publikumswirksam
darüber, wie gleichgültig unsere heutige "Unterschicht"
unserem Gemeinwesen scheinbar gegenüber steht. Ja richtig meine
Damen und Herren - viele haben unsere heutige Gesellschaft inklusive
der dauerbeschworenen Demokratie bereits abgeschrieben! Und DAS sind
exakt die Früchte des bequemen, verlogenen sowie falschen
Handelns in Politik und Wirtschaft der letzten Jahrzehnte. Wie soll
sich jemand für etwas begeistern, von dem er mehr und mehr
ausgeschlossen wird? Wer mag sich da noch abrackern, nur damit andere
die Früchte einstecken und es für einen selbst kaum noch
zum Leben reicht? Solchen Fragen kann keine Gesellschaft und keine
Politik der Welt auf Dauer ausweichen. Da nutzt auch die hohle
WM-Begeisterung nichts mehr, an die neoliberale Medien immer wieder
in geradezu widerlicher Weise anzuknüpfen versuchen.
Neoliberale
und Neofeudale Hardliner schielen derweil in Wahrheit doch längst
auf den nackten Existenzkampf zur "Motivation" angeblich
Unwilliger - und wenn sie so weiter machen, werden sie ihren Kampf
einestages schon noch bekommen. Hartz, so wie wir es heute haben, war
jedenfalls mal ein überaus kräftiger Schritt in diese
Richtung. Doch an die verkrusteten Strukturen in Staat und
Gesellschaft legt niemand Hand - im Sozialwesen nicht - im
Steuerrecht nicht - auf dem Arbeitsmarkt nicht - im längst
überholten Förderalismus nicht - und in der Bildung wie
fast sonst überall auch nicht. Im Gegenteil - nahezu alles im
heutigen Deutschland des Jahres 2006 scheint schon oder wird
paradoxerweise noch mehr dahin getrimmt, jenen die schon haben, noch
mehr zuzuschanzen. Verzicht und Solidarität sind zu Vokabeln
geworden, die allein nur noch in der angeblichen Unterschicht zu
buchstabieren sind. Hiermit erobert man keine Herzen, sondern man sät
Tornados für den immer morscher werdenden Baum unserer hiesigen
Gesellschaft.
Eine
wirkliche Aufstiegsgesellschaft wird man in Deutschland erst dann
wiederbeleben können, wenn sich alle Menschen wieder darauf
verlassen können, nicht andauernd an allen möglichen Ecken
hintergangen und betrogen zu werden. Wenn sie sich - und das in einem
der reichsten Länder der Welt - nicht um ihre Existenz im Alter
oder bei Krankheit oder um die ihrer Kinder sorgen müssen.
Kurzum - wenn sie sich darauf verlassen können, gewollter und
akzeptierter Bestandteil einer Gesellschaft zu sein, in der alle Hand
in Hand das jeweils in ihren Kräften Stehende für die
Steigerung des Gemeinwohls unternehmen. Unter solchen Voraussetzungen
vollbrachten und vollbringen Menschen in Gesellschaften enorme
Leistungen und sind notfalls auch zu großen Opfern bereit.
Gerechtigkeit und Solidarität sind nicht alte Hüte oder
Textbausteine für Sonntagsreden, sondern sie sind für
moderne Gesellschaften der einzig beschreitbare Weg in eine gute
Zukunft.
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