Ich hoffe, verehrte LeserInnen, dass Sie alle wohlbehalten in 2007
angekommen sind. Lassen Sie uns an dieser Stelle eine kurze Reise
durch das vergangene Jahr unternehmen, mit der wir bei einem der
wichtigsten Themen für unmittelbare Zukunft der Menschheit
überhaupt beginnen wollen. Weitaus mehr als in vorangegangenen
Jahren war 2006 von Krieg und Kampf der Kulturen die Rede - und es
steht zu befürchten dass es einestages das Schicksal der
Menschheit selbst sein könnte, welches hier weiteres Ignorieren,
Nichtdenken oder Schönreden hart abstrafen könnte. So
begann 2006:
Am 30.09.2005 hatte die bürgerlich-konservative Tageszeitung
Jyllands-Posten unter dem Titel "Das Gesicht Mohammeds"
eine Reihe von 12 Karikaturen veröffentlicht (Link)
und lösen damit zunächst begrenzt bleibenden Protest bei
lokalen islamischen Organisationen sowie eine Klage gegen die
Jyllands-Posten aus. Noch am 17.10.2005 wird ein Teil der Karikaturen
auch von der ägyptischen Tagezeitung Al Fager gedruckt - ohne
dass dies dort zu besonderen Reaktionen geführt hätte. Am
19.10.2005 bitten elf Botschafter islamischer Staaten den dänischen
Premier um ein Treffen, welches dieser ablehnt.
Die Situation spitzt sich weiter zu und als die norwegische
christliche Zeitung Magazinet die Karikaturen am 10.01.2006
nachdruckt, kommt es weltweit zu heftigen Protesten empörter
Muslime. In der Folge polarisieren Mediendebatten und weitere Provokationen (auch durch rechtsgerichtete Kreise) im Westen sowie
fundamentalistische Propaganda in der islamischen Welt die Lage nach
besten Kräften.
Es entsteht ein nicht mehr durchschaubares Geflecht von weiterer
Provokation einerseits sowie gewalttätigen Übergriffen
andererseits vor allem gegen westliche Einrichtungen in der
islamischen Welt, in dessen Verlauf bis zum 22. Februar 2006 139
Menschen getötet und 823 verletzt werden, bevor eine allmähliche
Entspanung der Lage eintritt. Die Klagen vor dänischen Gerichten bleiben letztlich erfolglos.
Unter ausdrücklicher Ausklammerung der Frage, ob und welche
Hintergründe es für diesen Vorfall gegeben haben mag,
bleibt die beunruhigende Diagnose, dass hier ein nahezu nichtiger
Anlass bereits zu derart erschreckenden Folgen führen konnte.
Die teilweise handwerklich schlechten Karikaturen können indes
nur Funke gewesen sein, an dem sich das brisante Gemisch einer von
skrupellosen Machtmenschen zunehmend vergifteten Atmosphäre
zwischen dem Westen und dem Islam entlud.
Wenn es schon um Religion geht, darf natürlich auch die Kirche
nicht fehlen - dem deutschen Papst Benedikt dem XVI. missriet eine
Rede-Passage derart gründlich (Beitrag)
dass es erneut zu heftigen Reaktionen und Auschreitungen in der
islamischen Welt kam. Interessant bleibt hier die Reaktion einiger
Politiker hierzulande fest zu halten, die kritisierte Redepassagen
teilweise ausdrücklich unterstützen, während Papst
Benedikt selbst sich eines Besseren besinnt und sich persönlich
und letzlich mit Erfolg um die Glättung der Wogen bemüht.
Oberflächlich betrachtet steht der Islam als der Schuldige da -
rückständig, archaisch und zu blindwütiger Gewalt
bereit, wird er zum Unterjocher der abgeblich so freien Welt
dämonisiert. So könnte die beabsichtigte Sichtweise lauten,
mit der Menschen im Westen für den Kampf der Kulturen
konditioniert werden sollen - denn die Realität schaut um
einiges anders aus: Es sind nicht muslimische Soldaten, die
weltweit fortwährend Opfer unter den Zivilisten einer bestimmten Glaubensrichtung produzieren. Es
sind nicht muslimische Wirtschaftssysteme, die weltweit Milliarden
von Menschen in Elend stoßen oder dort halten.
Die Militärausgaben aller islamischen Staaten zusammen belaufen
sich auf nicht einmal 10% dessen, was allein die NATO-Staaten Jahr
für Jahr für ihre vernunftwidrige Rüstung aus dem
Fenster werfen. An einsamer Spitzenposition hierbei die USA mit einem
560 Mrd.$ Etat - gefolgt von China (ca.85 Mrd.$) und Großbritannien
(ca. 60 Mrd.$). Nicht wir, sondern Menschen vor allem in islamischen Staaten sind es, die Tag für Tag die "Segnungen"
dieser Investitionen zu spüren bekommen - diesen Umstand sollte
eigentlich niemand, der noch bei Verstand ist, länger außer
Acht lassen können.
Das ganze Jahr 2006 ist denn auch durchzogen vom Umfeld dieses
dominierenden Themas. Der angebliche "Krieg gegen den Terror"
und sein Medienecho nimmt immer absurdere Dimensionen an - nicht nur
in den USA sind und werden Bürgerrechte weiter ausgehölt.
Weltweit ereignen sich zunehmend geradezu operettenhafte Vorfälle
- Fragwürdige Vereitlung von angeblichen Terroranschlägen
in GB mit der Folge Zahnpastafahndung auf Flughäfen, auf einmal
nicht mehr lebensmüde - angebliche - Dschihad-Bomber in
Deutschland, Rasterfahnung im Internet... All dies wurde uns pompös
serviert, all dies verlief mehr oder weniger sang- und klangslos im
Sande. Wie schon bei 911 und London 2005 bleiben zumeist weit mehr
Fragen offen als beantwortet werden.
Die Realität des Jahres 2006 indes sah andere durchaus reale
Dinge: In Palästina gewinnt die Hamas die Wahlen. In der Folge
geht Israel massiver gegen die Palästinenser vor führt ab
Mitte Juli zudem einen mehrwöchigen und mal wieder
völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Libanon und die dort
stationierte Hisbollah, dem Iran wird seitens der USA mehrfach klar
mit militärischen Konsequenzen gedroht, wenn er seine
Atomaktivitäten nicht unter die totale westliche Kontrolle
stellt.
Doch auch jenseits des Dauerkrisenherdes war Einiges los und gibt es
auch Positives zu berichten. In Frankreich scheitert die Regierung
mit einem Gesetz zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit durch
Aufweichung des Kündigungsschutzes für junge Menschen -
massive Proteste in der Bevölkerung zwingen die französische
Regierung, das ungeliebte Gesetz zurück zu ziehen.
In Bolivien übernimmt mit dem charismatischen Sozialisten Evo
Morales erstmals ein Eingeborener das Präsidentenamt und in
Nicaragua kommt Linkskandidat und Ex-Guerilla-Führer Daniel
Ortega an die Macht, womit der Einfluss der neoliberalen US-Politik
in Südamerika weiter schwindet.
Der Irak versinkt förmlich in alltäglichem Terror und
Gegenterror, was 2006 mehr Opfer als je zuvor fordert. Aus den
Nachfolgestaaten der Sowjetunion dringen zunehmend bedenklich
stimmende Nachrichten zu uns - in Weißrussland baut Präsident
Lukaschenka seine Position quasi zu einer Diktatur aus und es gibt
2006 eine ganze Reihe kriminell und politisch motivierter Morde im
Umfeld von Geheimdiensten sowie harten Kampfes um wirtschaftliche
Interessen.
Nordkorea zündet im Oktober seine erste Atombombe - bis heute
rätseln Experten über den Wert dieser Minidetonation:
Absicht oder gar Mißerfolg? Der iranische Präsident
Ahmadinedschad schlägt einen scharfen Abgrenzungskurs gegenüber
dem Westen ein und provoziert fortwährend besonders die USA
sowie Präsident Bush. Im April erklärt er den Iran
offiziell zur Atommacht und veranstaltet im Dezember einen Kongress
zur Leugnung
des Holocausts.
Nach Turbolenzen um Korruption und Neuwahlen übernimmt im
September das Militär die Regierungsgewalt in Thailand und im
Dezember putscht sich das Militär in den Fidschi-Inseln an die
Macht. In Italien verliert Berlusconi im Juni die Wahl knapp gegen
seinen linken Herausforderer Prodi. In Japan und Polen wechseln die
Regierungschefs, ein rechts-konservatives Bündnis gewinnt die
Wahlen in Schweden knapp und auch in Kanada und Portugal werden
konservative Regierungen ins Amt gewählt.
Die alles beherrschende Wahl des Jahres 2006 jedoch fand in den
Vereinigten Staaten statt, wo am 7. November die Demokraten die
Mehrheit im Repräsentantenhaus und auch knapp im Senat erobern
können, woraus sich empfindliche Einschränkungen für
den künftigen Handlungsspielraum des republikanischen
Präsidenten Bush ergeben.
Auch in Deutschland standen viele Landtagswahlen an - in
Rheinland-Pfalz gewinnt Kurt Beck (SPD) die absolute Mehrheit, in
Mecklenburg-Vorpommern
verlieren die PDS und in Sachsen-Anhalt die FDP ihre
Regierungsbeteiligungen zugunsten großer Koalitionen zwischen
SPD und CDU. Ansonsten werden in Baden-Württemberg und Berlin
die bestehenden Landesregierungen zwar bestätigt - dramatisch
aber bleibt indes der Rückgang der Wahlbeteiligung bei allen
Landtagswahlen des Jahres, dessen traurige Spitze Sachsen-Anhalt mit einer Wahlbeteiligung von nur noch 44,4% markiert.

Auf einem Parteitag Ende April beschließt die erst 2005 neu
entstandene Partei Wahlalternative für Arbeit und Soziale
Gerechtigkeit WASG knapp ihre Fusion mit der Linkspartei.PDS und
begräbt damit jene Hoffnungen, die viele von der SPD enttäuschte
Menschen in sie als neue politische Kraft gesetzt haben.
Das ganze Jahr hindurch werden erhebliche politische
Auseinandersetzungen um die Zukunft des Sozialstaates veranstaltet -
wobei der Sozialabbau selbst aber munter weiter fortschreitet. Der
bis heute anhaltende Streit zwischen Bund und Ländern um die
Gesundheitsreform deutet oberflächlich zwar eine Schwäche
der Großen Koalition in Berlin an - zu vermuten steht aber
eher, dass sich dahinter real doch ein hohes Maß an
Interessenübereinstimmung aller Parteien im Bundestag verbirgt -
vielleicht mit Ausnahme der Linkspartei.PDS.
Auch 2006 setzt sich die wirtschaftsfreundliche Gesetzgebung der
letzten Jahre fort - REIT und eine abermalige Steuerentlastung
für Unternehmen wird im Bundestag durchgewunken. Einstweilen
beschert das zuvor erfolgte Schließen von Steuerschlupflöchern
sowie ein moderater Aufschwung dem Staat deutliche
Steuermehreinahmen. Neue Programme indes werden auschließlich
zugunsten der Reichen und ohnehin Bessergestellten in Angriff genommen
und umgesetzt - wohingegen Arme, Langzeitarbeitslose und Kleinrentner
weiterhin empfindliche Einbußen hinnehmen müssen. Eine
Mehrwertsteuererhöhung von 16% auf 19% wird beschlossen und
tritt am 1.1.2007 mit ungewissen Folgen für die Konjunktur in
Kraft.
Immer weiter zunehmende Differenzen zwischen der Realität und
dem Bild, was offenbar nicht mehr interessenneutrale Instituitonen
und Medien von der Lage im Land zeichnen, tun sich auf. So feiert die
Bundesagentur für Arbeit das Absinken der offiziellen
Arbeitslosenzahl unter 4 Millionen, wohingegen kritische Beobachter,
wie Gewerkschaften oder Attac weiter von mindestens 8 Mio oder gar
mehr Menschen auf Arbeitssuche oder in prekärer Beschäftigung
ausgehen.

Im Zuge der Ereignisse um die an BenQ "verkauften"
Siemens-Handytochter macht sich öffentlicher Unmut über den
Großkonzern Luft - und auch andere Großkonzerne machen
das ganze Jahr über durch teilweise erschreckende Nachrichten zu
Wirtschaftskriminalität, Marktmanipulation und Bestechung auf
sich aufmerksam - die zweite Auflage des Mannesmann-Prozesses endet
indes mit Freikauf für die Angeklagten. Im öffentlichen
Dienst und bei den angestellten Ärzteschaft kommt es zu den
schwersten Arbeitskämpfen seit Jahren.
Überhaupt werden in 2006 manche Risse im stets als so überlegen
gezeichneten Bild deutscher und europäischer Eliten sichtbar.
Der erfolgsverwöhnte europäische Flugzeugbauer Airbus gerät
mit seinem ehrgeizigen Projekt A380 als dem größten
Serien-Passagierflugzeug der Welt (bis 850 Passagiere) in schwere
Turbolenzen. Die Auslieferung der ersten Maschinen verzögert
sich mehrfach, was dem Konzern Verluste in Milliardenhöhe
einbringt, ohne dass ein Ende der Probleme absehbar ist.
Außenpolitisch schwenkt Deutschland immer mehr auf den
internationalen Interventionskurs ein - doch scheint man
international unzufrieden mit dem deutschen Beitrag, was im November
in der US-Kreisen zugeschriebenen denkwürdigen Aussage gipfelt,
Deutsche Soldaten müssten "... das Töten lernen."
Und so schließt sich langsam der Kreis der Jahresbetrachtung
bei CogitoSum - oder war doch noch etwas? Ach ja - doch.... es gab
auch ein Ereignis auf dem Sektor des genau genommen im Vergleich zu
allem anderen nicht wirklich wichtigen Sports: die
Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland. Schließlich war
es ja "...die Welt, die da zu Gast bei Freunden war...".
Gegen Sportereignisse und echter, friedlicher Begeisterung von
Menschen dafür ist absolut nichts einzuwenden - wäre - ja
wäre da nicht jene phasenweise fast schon schier unerträgliche
Medienkampagne um dieses Großereignis gewesen. Sogar die
erkennbar dem Sport weniger zugeneigte Kanzlerin konnte der
Versuchung nicht widerstehen, das Spektakel für ihren
Imagegewinn zu nutzen - viel anders kann es im Rom zu Zeiten von
"Brot und Spiele" auch nicht gewesen sein... Und doch muss
der Erfolg der Kampagne die Erwartungen ihrer Macher wohl derart
übertroffen haben, dass das WM-Fieber seither zum festen
Bestandteil von Medien- und Polit-Ritualen aller Art wurde, wobei es wohl
vordringlich dem Zweck dient, den Blick auf nicht selten
höchst traurige Umstände zu verstellen.
Für viele Menschen im Lande, besonders für die
Arbeitslosen, Armen und Kleinrentner ist die Fußballweltmeisterschaft
längst Vergangenheit - und sie sahen sich auch 2006 der weiter
fortschreitenden Einengung ihrer Lebensumstände gegenüber.
So war 2006 auch ein Jahr gradezu entsetzlicher Ansammlung von
Schreckensbotschaften

aus prekärem sozialen Millieu. Unfassbare
Verbrechen gegen eigene und fremde Kinder und andere Menschen,
raffiniert gemachte Filmberichte über das Leben der
Ausgegrenzten und Armen hierzulande - die jeden Einsatz für
diese Menschen als sinnlose und ungerechtfertigte Geldverschwendung
geißeln - scheinen zum integralen Bestandteil unseres
Medienalltags geworden.
Da tröstet auch die Nachricht wenig, dass zwei böse
Schurken - Slobodan Milosevic und Saddam Hussein - das Jahr 2006
nicht überlebten. Milosevic wurde am Morgen des 11. März
2006 tot in seiner Zelle im Gefängnis des
UN-Kriegsverbrechertribunals aufgefunden. Die näheren Umstände
seines Todes blieben fraglich - wohingegen Saddam im Morgengrauen des
30.12.2006 ganz offiziell im Irak durch den Strang hingerichtet
wurde. Auch wenn Letzterer gewiss eine Menge auf dem Kerbholz hat,
bleibt ein schaler Beigeschmack von Siegerjustiz zurück - was
nicht zuletzt auch daran liegt, dass der ganze Krieg
völkerrechtswidrig war und seine vorgegebenen Motive sich als
Lügen entpuppten.

Nun, liebe LeserInnen - 2006 ist vorbei und 2007 liegt vor uns. Wie
an jedem Jahresbeginn ist die Hoffnung erlaubt, dass 2007 zu einem
wirklich guten Jahr für alle Menschen unserer Gesellschaft - und
nicht wieder nur für einen Teil derer - wird. Hierzu wird das
weitere Anwachsen der Asymmetrie in allen Ländern und
Gesellschaften vor allem in Bezug auf Verteilung von Macht und
Reichtum aufzuhalten sein. Das schwerfällige Deutschland tut
sich hiermit scheinbar besonders schwer - gleichwohl kann man auch
hier diese Prozesse nicht länger irgendwelchen Eliten aus
Politik, Wirtschaft oder Medien überlassen - nicht wenige von
diesen verdienen unser Vertrauen offenbar immer weniger, dass sie
wirklich Gutes mit dieser Gesellschaft und ihren Menschen im Schilde
führen.
Hiermit ist auch klar, dass 2007 vermutlich kein ruhiges Jahr werden
wird. In Deutschland nicht und anderswo auch nicht - doch
Harmoniesucht löst nun mal ebenso wenig Probleme wie Weggucken.
An dieser Stelle wünsche ich dennoch Allen ein friedliches,
gesundes und erfolgreiches Jahr, an dessen Ende uns eine
hoffentlich positivere Bilanz möglich sein wird, als es diesmal
der Fall war.
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