50 Jahre EU
Geschrieben von Jürgen Scheffler   
Sonntag, 25. März 2007

EUenlEuropa feiert in diesen Tagen. Man legte die Unterzeichnung der römischen Verträge als Geburtszeitpunkt der heutigen Europäischen Union fest - und diese liegt heute auf den Tag genau 50 Jahre zurück. Die Granden dieses Multiversums, das sich EU nennt, klopfen sich heute reihum gegenseitig auf die Schulter - viel habe man erreicht. Als Höhepunkt des Jubliäums ist für heute die gemeinsame und feierliche Unterzeichnung der "Berliner Erklärung" vorgesehen, die - unterzeichnet von allen inzwischen 27 Mitgliedstaaten - dem dahinfließenden Fluss EU für die kommenden Jahre ein Flussbett schaffen soll.

Was ist nun eigentlich die "EU"? Sie ist kein Bundesstaat, kein Staatenbund - sie ist irgendetwas zwischen allen Welten. Und genau da liegt ihre eigentliche Stärke - sie ist der lebende Beweis dafür, dass es Wege gibt, die Grenzen engstirniger Nationalstaatlichkeit und anderer Fanatismen zu überwinden.

Beeindruckender als das folgende Bild kann kaum etwas den bisherigen Erfolg der EU visualisieren. 493 Millionen Menschen mit unterschiedlichen Traditionen in Nationalität, Kultur und Religion leben seit Jahrzehnten aller historischen Konflikte unter ihnen zum Trotze friedlich in diesem auf der Welt einmaligen Multiversum zusammen.

Die Europäische Union 2007

 

Auf leisen Sohlen kam sie über eine organisch gewachsene wirtschaftliche und administrative Integration daher und und überschreitet inzwischen geographisch die Fußstapfen der ehemalig epochalen Weltmacht Rom. Es ist richtig - die EU war und ist ein Projekt der Eliten - enorme Widerstände waren bis heute zu überwinden. Selbst heute ist die real existierende EU des Alltags meistenorts eher unbeliebt denn beliebt - Gurkenkrümmungsradien, Vorschriften- und Bürokratiedickicht sowie Teuro machen den Menschen zu schaffen - und doch gewöhnen sie sich von Generation zu Generation mehr an das Neue.

So darf man jenen Menschen, die sich in der Vergangenheit für dieses Projekt eingesetzt, es immer wieder vorangebracht haben, gratulieren. Man folgte einer Vision und verstand es bislang, diese mit viel Geduld und Zähigkeit und vor allem mit Augenmaß weiter voran zu bringen. Die EU beweist gradezu, dass es nicht klug sein kann, historische Prozesse und Entwicklungen in Legislaturperioden und Kurzfristzeiträumen zu zwängen. Die bisherige Entwicklung schuf einen vieldimensionalen kulturellen Austausch zwischen den Nationen, den es weltweit in solcher Form nicht noch einmal gibt. Menschen beginnen, sich zunehmend von Europäer zu Europäer zu begegnen und immer weniger von Nation zu Nation.

Wer nur mal einen Blick in die Geschichte wirft und schaut, wie schwierig allein die Entstehung Deutschlands war, muss vor der enormen Gesamtleistung von 50 Jahren EU-Politik den Hut ziehen. Doch alles Feiern hilft nicht darüber hinweg, auch nüchtern zu erkennen - worin die Stärke und letztlich auch der Erfolg dieser Politik lag. Die EU ist keine verschmolzene oder neue Nation - auch widerstand man bislang der Versuchung, den Menschen solches überzustülpen. So ist sie zu diesem Multiversum verschiedener Völker geworden, die gerade einmal soviel Gemeinsamkeit praktizieren, wie es ihnen jeweils sinnvoll und geboten erscheint.

Die Leistung der EU-Politik liegt in ihrer Effektivität in der Findung des größten gemeinsamen Nenners. Hierin ist sie weltweit richtungsweisend als Modell auf dem Weg in ein Zusammenfinden der Völkergemeinschaft. Das konnte nur funktionieren, solange sich die EU aus dem weltweiten Machtgerangel heraus hielt und sich stattdessen auf gemeinsames Wirtschaften und friedliches Weiterentwicklen verlegte.

Und hier stehen der EU nun schicksalhafte Jahre bevor. Wie immer in der Geschichte machen Erfolge Appetit auf mehr. Lange widerstanden die beteiligten Eliten der Versuchung, den historischen Prozess des Zusammenwachsens der Nationen zu überfordern. Auch hier hilft der Blick in die deutsche Geschichte - die Bildung eines deutschen Staates wurde transportiert wenn nicht gar überlagert von einer nationalromantischen Kampagne, die letztlich zur Entgleisung führte - politisch und auch in den Köpfen der Menschen. Die Folge: zwei grauenhafte Weltkriege fegten über Deutschland hinweg begleitet von unvorstellbaren Deformationen menschlicher Vernunft.

Wenn heute so viel von Feiern und Erfolg die Rede ist, gilt es vor allem auch zu mahnen - unsere heutigen Eliten zu mahnen, die Wurzeln des bisher erreichten Erfolges und sein wahres Ausmaß niemals aus den Augen zu lassen. Die EU Verfassung und das Vorhaben, dieses unfertige Gebilde in die Verantwortung internationaler Machtpolitik stürzen zu wollen, könnte sonst der erste Schuss in der EU werden, der voll nach hinten losgeht.

Wer sagt eigentlich, dass die EU sich in die von fremden Mächten - vor allem von den USA - vorgegebene Machtsturktur einordnen muss? Es gibt kein EU-Volk, es gibt keine EU-Streitkräfte - und das ist gut so. Keine Streitkräfte können schließlich dann auch im Namen einer an sich guten Sache keine Schäden anrichten - was nicht zuletzt der guten Sache nutzt. Die Stärke der EU waren in der Vergangenheit niemals Panzer und Raketen. Ihre Stärke war die gewachsene politische Kultur im Umgang mit diffzilen Interessenkonflikten - solche in gegenseitigem Respekt und mit unendlicher Geduld einer vielleicht nicht immer idealen aber doch einer Lösung zuzuführen.

Das unterscheidet EU-Politik fundamental von jener der USA, die unter Präsident Bush um Jahrzehnte zurückentwickelt wurde. Was soll das - die EU in einem "Krieg gegen den Terror" - Eine Bevölkerung von 493 Mio Menschen mit jahrhundertelanger Kriegserfahrung im kollektiven Gedächtnis - das unterscheidet sie erheblich von jener der USA - fällt nichts Besseres ein, als einen veritablen Krieg gegen eine Horde ausgeflippter Moslems zu führen? Soll das jener Acker sein, auf dem künftig die Völker der EU sich und anderen einander näher kommen? Wenn dieser Acker das Schlachtfeld sein soll - wie ehedem in Europa auch - wird dieses Näherkommen erst dann möglich sein, wenn weitgehend alles in Schutt und Asche liegt.

An einer Wende der künftigen EU-Politik in diese Richtung ist unter den heutigen Rahmenbedingungen und auch in Anbetracht des zurücklegten Weges alles falsch, was nur falsch sein kann. Dennoch wollen viele in den Eliten diesen Weg - der EU-Verfassungsvertrag soll Europa für die wirschaftliche und militärische Kriegsführung konditionieren. Und dies ohne stringente demokratische Kontrolle - hierfür ist diesen Leuten nicht zu applaudieren - hierfür sind sie auszubuhen. Denn es sind nicht diese Eliten, die die EU so wie wir sie heute haben, zustande brachten.

Doch zunächst werden es die Eliten heute fertig bringen, zum 50-jährigen Geburtstag der EU die folgende Erklärung gemeinsam und feierlich zu verabschieden, die ich hier bewusst einmal im Wortlaut wiedergeben möchte:

"Europa war über Jahrhunderte eine Idee, eine Hoffnung auf Frieden und Verständigung. Diese Hoffnung hat sich erfüllt. Die europäische Einigung hat uns Frieden und Wohlstand ermöglicht. Sie hat Gemeinsamkeit gestiftet und Gegensätze überwunden. Jedes Mitglied hat geholfen, Europa zu einigen und Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu stärken. Der Freiheitsliebe der Menschen in Mittel- und Osteuropa verdanken wir, dass heute Europas unnatürliche Teilung endgültig überwunden ist. Wir haben mit der europäischen Einigung unsere Lehren aus blutigen Auseinandersetzungen und leidvoller Geschichte gezogen. Wir leben heute miteinander, wie es nie zuvor möglich war.

Wir Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind zu unserem Glück vereint.

Wir verwirklichen in der Europäischen Union unsere gemeinsamen Ideale: Für uns steht der Mensch im Mittelpunkt. Seine Würde ist unantastbar. Seine Rechte sind unveräußerlich. Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Wir streben nach Frieden und Freiheit, nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, nach gegenseitigem Respekt und Verantwortung, nach Wohlstand und Sicherheit, nach Toleranz und Teilhabe, Gerechtigkeit und Solidarität.

Wir leben und wirken in der Europäischen Union auf eine einzigartige Weise zusammen. Dies drückt sich aus in dem demokratischen Miteinander von Mitgliedstaaten und europäischen Institutionen. Die Europäische Union gründet sich auf Gleichberechtigung und solidarischem Miteinander. So ermöglichen wir einen fairen Ausgleich der Interessen zwischen den Mitgliedstaaten.

Wir wahren in der Europäischen Union die Eigenständigkeit und die vielfältigen Traditionen ihrer Mitglieder. Die offenen Grenzen und die lebendige Vielfalt der Sprachen, Kulturen und Regionen bereichern uns. Viele Ziele können wir nicht einzeln, sondern nur gemeinsam erreichen. Die Europäische Union, die Mitgliedstaaten und ihre Regionen und Kommunen teilen sich die Aufgaben.

Wir stehen vor großen Herausforderungen, die nicht an nationalen Grenzen halt machen. Die Europäische Union ist unsere Antwort darauf. Nur gemeinsam können wir unser europäisches Gesellschaftsideal auch in Zukunft bewahren zum Wohl aller Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union. Dieses europäische Modell vereint wirtschaftlichen Erfolg und soziale Verantwortung. Der Gemeinsame Markt und der Euro machen uns stark. So können wir die zunehmende weltweite Verflechtung der Wirtschaft und immer weiter wachsenden Wettbewerb auf den internationalen Märkten nach unseren Wertvorstellungen gestalten. Europas Reichtum liegt im Wissen und Können seiner Menschen; dies ist der Schlüssel zu Wachstum, Beschäftigung und sozialem Zusammenhalt.

Wir werden den Terrorismus und die organisierte Kriminalität gemeinsam bekämpfen. Die Freiheits- und Bürgerrechte werden wir dabei auch im Kampf gegen ihre Gegner verteidigen. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit dürfen nie wieder eine Chance haben.

Wir setzen uns dafür ein, dass Konflikte in der Welt friedlich gelöst und Menschen nicht Opfer von Krieg, Terrorismus oder Gewalt werden. Die Europäische Union will Freiheit und Entwicklung in der Welt fördern. Wir wollen Armut, Hunger und Krankheiten zurückdrängen. Dabei wollen wir auch weiter eine führende Rolle einnehmen.

Wir wollen in der Energiepolitik und beim Klimaschutz gemeinsam vorangehen und unseren Beitrag leisten, um die globale Bedrohung des Klimawandels abzuwenden.

Die Europäische Union lebt auch in Zukunft von ihrer Offenheit und dem Willen ihrer Mitglieder, zugleich gemeinsam die innere Entwicklung der Europäischen Union zu festigen. Die Europäische Union wird auch weiterhin Demokratie, Stabilität und Wohlstand jenseits ihrer Grenzen fördern.

Mit der europäischen Einigung ist ein Traum früherer Generationen Wirklichkeit geworden. Unsere Geschichte mahnt uns, dieses Glück für künftige Generationen zu schützen. Dafür müssen wir die politische Gestalt Europas immer wieder zeitgemäß erneuern. Deshalb sind wir heute, 50 Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge, in dem Ziel geeint, die Europäische Union bis zu den Wahlen zum Europäischen Parlament 2009 auf eine erneuerte gemeinsame Grundlage zu stellen.

Denn wir wissen: Europa ist unsere gemeinsame Zukunft.“

Ein gute Erklärung - wenn man vielleicht im letzten Absatz auch noch hätte mehr betonen müssen, dass unsere Zukunft nicht Europa - sondern immer nur das Europa in der Welt sein kann. Die Welt und wie es in ihr ausschaut darf auch ein Europa bei all seiner Vielfalt und Größe nicht ausblenden. Ein kleiner aber nicht unwichtiger Unterschied, hinter dem - noch in weiter Ferne - die nächste Idee nach der europäischen aufzieht. Und für diese neue Idee könnte Europa einestages zum Prezedenzfall werden, sofern es weiter gelingt, der Versuchung zum Größenwahn zu widerstehen.

EU-Ratsvorsitzende und Kanzerlin Merkel wird für diese Erklärung gefeiert - das könnte man auch wesentlich unbekümmerter, wenn man es als Deutscher unter ihrer Regierung nicht besser wüsste - Sonntagsreden allein nämlich machen noch lange keine Politik. In der Politik zählen nur die realen Fakten und nicht das Gebrabbel drumrum. Und es muss erlaubt sein, die obige Erklärung mit den realen Entwicklungen im Deutschland dieser Tage quer zu lesen - was einem dann allerdings die Feierstimmung gründlich austreibt.

Es erhebt sich die Frage nach der Aufrichtigkeit der Beteiligten, wenn sie es fertig bringen, von "friedlicher Konfliktlösung in der Welt" zu schwafeln, während Soldaten verschiedener Länder im Irakkrieg und in diesem wahnsinnigen "Krieg gegen den Terror" bereits ins Gras beißen. Es besteht die Gefahr, das die Realpolitik diesen schönen Text oben noch am Tage seiner Unterzeichnung genauso entwertet, wie bei näherem Hinsehen der Entwurf für den Verfassungsvertrag. Und es sind die Eliten selbst, die dies mit der Diskrepanz zwischen ihren Worten und ihrem Handeln tun.

Wäre Europa so begonnen worden - es wäre gewiss niemals dorthin gelangt, wo es heute ist. Heute steht die EU vor epochalen Herausforderungen auf vielen Gebieten - und das gewiss blödsinnigste Feld für den Einsatz europäischer Energie ist die Schaffung einer EU-Armee. Ganz andere Fragen wären da eigentlich zu beantworten - wie kann eine zukünftige gerechte und sinnvolle Wirtschaftsordnung aussehen - denn eine solche gibt es nicht auf dieser Welt. Wie wir in Europa an diesem Jahrestag aber sehr genau wissen, ist ohne eine solche ein dauerhafter Friede kaum möglich. DAS wären doch mal ein Gebiet, auf dem unsere Eliten orientiert am Vorbild der EU-Väter und Mütter Zukunft wirklich gestalten könnten.

Es war nicht anders zu erwarten - der Papst musste immer noch etwas zum Näseln an dieser Erklärung finden. Ihm fehlt die Würdigung der christlichen Wurzeln Europas. Na schön, das mag er ruhig so sehen - doch Europa ist nicht einig geworden, weil es christlich in seinem Sinne war, sondern weil es das enge geistige Korsett religiöser Dominanz überwinden konnte. Wären die Muslime in der Welt heute auch schon dort angekommen - George W. Bush müsste sich einen neuen Kriegsgegner suchen.

Die Menschen in Europa wollen keine Kriege - sie haben zu recht die Nase voll von all dem unendlichen Leid, welches stets im Interesse irgendwelcher belanglosen und zumeist fragwürdigen Ziele seit Jahr und Tag über Abermillionen von Menschen gebracht wurde. Die Menschen wollen keine religiöse Ausgrenzung - und sie wollen keinen Konflikt zwischen Christen und Muslimen. Wenn die Türkei die Aufnahmebedingungen für die EU erfüllt, wird in ein paar Jahren erstmals ein islamischer Staat dieser Gemeinschaft beitreten. Dies wäre weltweit ein derart wichtiges Signal für die Intergrationkraft menschlicher Vernunft, dass es sich geradezu verbietet, es irgendwelchen Partialinteressen zu opfern.

Den Weg bis hierher geschafft zu haben, ist das, was heute uneingeschränkt zu feiern ist. Die EU ist unvollkommen, sie hat eine Menge Probleme, steht vor großen Herausforderungen. Aber das war immer so - und immer entwickelte man letztlich die Weisheit und die Kraft, wieder einen Fuss in die richtige Richtung zu setzen. Und immer waren es keine Kampfstiefel auf fremden Böden, die diesen Fuss auf seinem Weg voranbrachten.

So kann unser Kommentar zum 50. EU-Geburtstag leider nur zweigeteilt ausfallen - Gratulation und Anerkennung für den zurückgelegten Weg und zugleich eine eindringliche Mahnung an die heutige EU-Elite, die obige Erklärung dann auch wirklich beim Worte zu nehmen. Denn das würde eigentlich ausschließen, dass die EU-Zukunft durch dieses 500-seitige Machwerk, das sich "Vertrag für eine Verfassung für Europa" nennt oder durch eine zu diesem Zeitpunkt überflüssige EU-Armee von ihrem bislang ordentlichen Weg abkommt.


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