Ball Paradox...
Geschrieben von Jürgen Scheffler   
Montag, 26. März 2007

Manchmal kann man der Financial Times Deutschland durchaus ordentlichen Journalismus bescheinigen - etwas, was hierzulande inzwischen schon direkt auffällt. Aber dann wieder leistet sich das Blatt Beiträge wie diesen hier. Es ist zwar "nur" ein Kommentar - jedoch grade dieser hat es mal wieder in sich. Immerhin ist die Kommentierende, Dr. Brigitte Marschall, keine Unbekannte. Sie leitet das Haupstadtbüro der FTD und fiel uns in der Vergangenheit häufiger mit einer - na nennen wir es mal - wohlwollenden Berichterstattung u.a. hinsichtlich der Professoren Sinn und Raffelhüschen auf. Daneben ist sie selbstverständllich gern und oft gesehener Gast in Talkrunden...

In ihrem Kommentar indes langt Brigitte Marschall tief in die Trickkiste neoliberaler Argumentation, um ihre Unsinnsaussage zu rechtfertigen, dass Mindestlöhne Arbeitsplätze vernichten. Wenn Mindestlöhne etwas vernichten, dann vernichten sie die krassesten Auswüchse von Ausbeutung in der Gesellschaft. Das ist uneingeschränkt zu begrüßen und diese Aussage lässt sich - entgegen der von Frau Marschall - sogar beweisen.

Würde Birgit Marschalls These stimmen, müssten fast sämtliche EU-Länder um uns herum sozusagen "auf dem Stock" gehen - denn die haben zum Teil schon längere Zeit knallharte gesetzliche Mindeslöhne. Die bewegen sich bei sämtlichen wirtschaftlch mit uns vergleichbaren Staaten zwischen 8 und 9 €. Selbst in USA gibt es einen solchen - allerdings liegt der bei nur 5,15$. (aber die USA ist ja auch keine moderne Gesellschaft....)

Es setzt sich fort mit der Tatsache, dass wir in unserem Beitrag zur Rentenversicherung (siehe dort Tab.3-1) vorrechnen konnten, dass unter den heutigen Verhältnissen hierzulande bereits ein Stundenlohn von 7,57€ notwendig ist, um ein minimales Einkommen sowie eine Mindestfinanzierung des Generationenvertrags überhaupt zu erreichen. Alles was solche Löhne nicht ermöglicht, macht im derzeitigen wirtschaftlichen Gefüge der Gesellschaft schlicht keinen Sinn - auch wenn es der gleichnamige Professor anders sieht.

Was passiert nun volkswirtschaftlich bei einem Menschen, der für weniger als unsere 7,57 € die Stunde arbeitet? Es ist ganz einfach: alles darunter erzeugt Bedarf an durch Sozialsysteme (gleich welcher Art übrigens) nicht abdeckbarer Transferleistung - entweder jetzt oder eben später im Rentenalter. Nun ist es ja nicht so, dass der Arbeitnehmer - z.B. die Friseurin für 3,50 € die Stunde direkt am "Markt" teilnimmt - denn täte sie dies, hätte sie nicht das geringste Problem mehr - 15-20 € sind für eine Friseurbehandlung heute mindestens fällig - drei Minimalbehandlungen die Stunde sind allemal drin. Aber nicht die Friseurin nimmt am Markt teil, sondern ihr Arbeitgeber - der ein Produkt oder eine Leistung zu ebengenannte Preisen auf dem Markt anbietet.

Gut - der hat natürlich auch alles an der Backe - Miete/Pacht, Investionen, Marketing etc. und natürlich möchte der Chef mit seiner Familie auch leben. Für die meisten Friseure muss die Rechnung letztlich aufgehen - sonst gäbe es nicht so viele davon. Ein Friseurarbeitsplatz dürfte heute die Stunde mindestens 30 € in die Kassen des Chefs spülen - unproduktive Wartezeiten bereits heraus gerechnet, die eigentlich zum Wagnis des Unternehmers und nicht zu dem des Arbeitsnehmers gehören. Tut ein Platz das nicht, wird es ihn nicht geben - und dies ist präzise die Ursache dafür, dass Lohndrücken und Herumtrampeln auf Arbeitslosen heute nicht mehr Arbeitsplätze bringen...

Warum das so ist, sehen wir an unserem Beispiel - von den 30€ Einnahmen zahlt der Chef dort gerade mal 3,50 € für denjenigen, der die eigentliche Arbeit macht. Da er als Chef sich aus diesem Budget mit Sicherheit mehr als 3,50 € Privatentnahme genehmigen wird, dürfte selbst ein Prof. Sinn nicht bestreiten. Damit ist klar - sinkt die "Produktivität" eines Friseurarbeitsplatzes allzu kräftig unter die benannten 30 € - leiden auch die Einnahmen des Chefs - und er wird seinen Laden stets so organisieren, dass dieser Fall nicht eintritt - weitgehend unabhängig vom Lohn.

Hier pendelt sich immer eine Art Gleichgewicht ein - dieses würde genauso auch entstehen, wenn der Chef seiner Friseurin 10€ die Stunde zahlt. Dieser Lohn würde derzeit ihm erlauben, nur die besseren Friseurinnen zu beschäftigten, was den meisten Kunden hier sicher ein paar Euro mehr wert ist - auf jeden Fall braucht es nur eine Steigerung der Produktivität von 30,00€ auf 36,50 € die Stunde - und schon wäre dieses kleine Wunder vollbracht.

Und hier wird nun endgültig deutlich, wie sehr die Argumentation von Brigitte Marschall hinkt - sie behauptet ihrem Idol Prof. Unsinn folgend nämlich, arbeitslose Menschen würden einen ordentlichen Lohn für ihre Arbeit nicht erwirtschaften können. Dieses ist der Schwachsinn in Quadratur - wenn es an einem Ort nun 15 Friseurarbeitsplätze gibt und 30 Bewerberinnen da sind - da können die übrigen 15 das Format von Starfriseuren mit dem Zeug zum Prommi-Ondulieren haben... sie werden keinen Job bekommen - und wenn sie die anderen verdrängen, dann sind eben die arbeitslos - dabei könnten die dann immer noch um Längen "besser" sein als die Friseure ein paar Orte weiter...

Spätestens hier erhebt sich die Frage nach der realen Qualifikation der Frau Marschall für ihren Job - wer solche Kommentare schreibt, sollte wenigstens eine grobe Vorstellung davon haben, worüber er schreibt. Dafür gibt sich Frau Marschall mit absoluter Sicherheit eben nicht mit 3,50 €, auch nicht mit 30,00 € und selbst auch nicht mit 50,00€ die Stunde zufrieden. Was immer sie bekommt, sie erhält ihr Geld für dumpfe Argumentation zugunsten eindeutiger Interessen, wie viele ihrer Kollegen auch.

Das traurige an unserer heutigen Gesellschaft ist, dass diese Art Menschen an vielen Stellen Schlüsselpositionen in den Medien einnehmen und dort für die Propaganda, die sie produzieren, weitaus fürstlicher entlohnt werden, als es ihrer realen Leistung entspricht. Die fürstliche Entlohnung ist geradezu der Beweis dafür, dass es Menschen geben muss, die an Frau Marschalls Arbeit kräftig verdienen - bzw. sich derartiges davon versprechen. Hiermit widerlegt Frau Marschall allerdings selbst die These des geistigen Ziehvaters des Neoliberalismus in Gänze.

Der gute alte Adam Smith hat nämlich die Idee erfunden, dass sich in einer Gesellschaft, wenn man allen Individuen nur genügend Freiheit zur Durchsetzung ihres individuellen Nutzen ließe, sich von selbst das optimale Gleichgewicht einstellen würde (Die unsichtbare Hand des Marktes). Diese These ist falsch - denn sie basiert auf einem Ideal, dass real so gut wie nicht mehr gesichtet wird. Sie setzt nämlich einen vollkommen freien Markt mit völlig unabhängigen Marktteilnehmern voraus.

Doch die Friseurinnen im Osten sind nicht frei - sie brauchen Geld zum Leben - und mithin sind sie nicht mehr unabhängig. Wenn solche Menschen einen solchen Lohn akzeptieren - dass ist das kein Zeichen für ein Funktionieren des Marktes sondern eher ein Zeichen für das Gegenteil davon.

Ein Markt wird nämlich nicht unfrei nur durch staatliche Eingriffe - ein Markt wird auch unfrei durch Anbieter- oder Abnehmerkartelle. Dies ist heute eher die Regel als die Ausnahme - nicht zuletzt aufgrund der heutigen "Wirtschaftsverfassung" zwangsläufig eintretenden Konzentration - und damit kann man dann Adam Smith Thesen in diesem Zusammenhang denn auch komplett in die Tonne hauen.

Märkte sind von Machteinflüssen geprägt - viel wäre schon gewonnen, wären es heute wenigstens noch nur "wirschaftliche" Mächte, die sich da auswirken. Aber die Krake ist längst viel weiter gewuchtert - die kommerziellen Medien hat sie ganz übernommen und auch die Politik ist seit Jahren "überrannt".

Die heute bereits Mächtigen (ersatzweise: die Reichen - denn Geld ist heute nun mal die handlichste Art von Macht) nehmen unlegitimierten Einfluss auf Meinungsbildung und sogar direkt auf die Politik - wunderbar zu beobachten an der Schleimerei von Hundt und Thumann zugunsten unserer Kanzlerin - von der vermutlich niemand in diesem Lande wirklich weiß, was unter der neuerdings ansehlich gestylen Haarpracht wirklich vorgeht (das wird doch nicht das Werk einer 3,50 € - die-Stunde-Friseurin sein?). Na - gewiss nicht...

Leute wie Marschall sollten sich zum Thema "Arbeit" eigentlich bedeckt halten - denn dies ist etwas, was sie vermutlich ihr Leben lang noch nicht wirklich kennengelernt haben. Der Fall dass jemand "arbeitet" und nicht genug zum Leben verdient, KANN in einer ordentlichen Gesellschaft gar nicht eintreten. Er arbeitet dann schlimmstenfalls das Falsche...

Solange unsere Gesellschaft Millionenjahresgehälter für Manager hervorbringt, kann dieser falsche Fall sowieso gar nicht eintreten - es sei denn, deformierte Machtkonstellationen ermöglichen diesen Fall. DIES ist die unwiderlegbare Tatsache hinter all der Nebelschießerei der - selbst stets bestens versorgten (wie Prof. Sinn) - Propagandisten einer Sklavengesellschaft. Und Birgit Marschall muss man wohl dazu zählen... was nicht nur wir ihr anmerken - wie hier und hier ersichtlich.

CogitoSum ist keine kommunistische Kampfsite - auch wir hier finden "freie Märkte" eine durchaus elegante und sinnvolle Lösung - NUR - sie müssen dann halt auch wirklich FREI sein. Die Struktur unserer Gesellschaft sieht vor, dass die Tarifparteien ihre Belange untereinander frei aushandeln - dies ist im "Normalfall" auch in Ordnung. Wenn aber - wie beim Friseurhandwerk im Osten - dabei Lösungen heraus kommen die gesellschaftlich nicht mehr tragfähig sind, hat die Freiheit - und auch die Tariffreiheit - ein Ende.

Freie Märkte bedingen äußerer Eingriffe, weil freie Märkte sich von selbst - exakt wegen Machtstrukturen - nicht einstellen. Etwas womit sich unter anderem das Kartellrecht legitimiert. Die verzerrende Wirkung "unfreier" Märkte indes sind solange bekannt, wie Märkte selbst. Ein Rätsel bleibt nur, wieso heute Viele so tun, als seien freie Märkte gerade erst "erfunden" worden und man wisse nichts von ihren begrenzenden Faktoren.

Hier muss der Staat längst die Brandmauer einziehen, weil dies sonst niemand geschafft hat - und die heißt: er befiehlt: 7,50 € pro Stunde. Alles darunter ist kein Arbeitsplatz. Und der Staat hat Recht damit - denn jeder Lohn darunter wird letztlich zu einer "Last" für ihn... wo dann die Reichen und Mächtigen wieder rumjammern, dass sie Abgaben leisten müssen. Ein kluger Staat indes, würde derartiges regulatorisch zurück spiegeln in die Wirtschaft selbst - indem er die Sozialabgaben nicht mehr an dem Faktor Arbeit - sondern am Unternehmenserfolg festmacht. Damit lohnen sich Arbeitsplatzabbau und Lohndrückerei nicht mehr so sehr - und DAS ist genau das, was unserer Zeit fehlt.

Auf lange Sicht lohnen die sich auch aus anderen Gründen nicht - denn schließlich braucht es immer Menschen, die alles was die Wirtschaft produziert auch kaufen können. Das Dumme an diesem durchaus "marktgerechten" Regelkreis ist eine gewisse Trägheit in seiner Auswirkung. Hiermit ist der staatliche Eingriff Mindestlohn einer Vernunft geschuldet, die über den Bilanzstichtag eines Unternehmens hinaus blickt - und nicht etwa einer Vernichtung von Arbeitsplätzen, die de fakto eh keine sind.

Die Schwäche der neoliberalen Theorie - sozial ist was Arbeit schafft - liegt darin, dass man zum Nulltarif unendlich viel Arbeit schaffen kann - nur liegt das allein daran, dass diese "Arbeit" - in unserem gültigen Wertesystem fast NICHTS wert ist. Da gäbs dann tolle Chancen.... z.B. die Dienstleistung als hauptamtlicher "Nase-Popler" - warum nicht, wenn es doch nichts kostet? Ersatzweise kann man natürlich auch dem Prof. Sinn die Schühchen polieren - womit der offenbar ein so gravierendes Problem hat. Ob man DAS allerdings zu einem gesellschaftlichen Problem machen muss, ist fraglich - andere Menschen schaffen es jedenfalls locker, ihre Schuhe selbst zu polieren. Herr Sinn wird doch da etwa nicht ein Leistungsdefizit aufweisen?


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