Die Zauberlehrlinge...
Geschrieben von Jürgen Scheffler   
Freitag, 5. September 2008

Das sich seinem Ende zuneigende Sommerloch treibt bisweilen merkwürdige Blüten. Eine an Absurdität schwer zu übertreffende ist diese hier: Link. Bevor wir uns dem Thema inhaltlich zu wenden, einige wichtige Anmerkungen: Erstens - dieser unterirdische Beitrag ging mit dazu passender Garnitur über Reuters und die anderen Presseagenturen - wohlweislich freilich, ohne einen Link zum zitierten Papier auszuweisen. Dem kann abgeholfen werden: hier der Link zur Zusammenfassung des Streitobjekts. Zweitens: die Meldung steht im Kontext zu einer anderen, interessanten Veröffentlichung des statistischen Bundesamtes - wonach Ende 2006 rund 5,3 Mio Menschen in Deutschland ALG2 bezogen - was im Umkehrschluss bedeutet - 5,3 Mio Arbeitslose zuzüglich derjenigen, die im Bezug von ALG1 stehen - zuzüglich jener, die momentan ihr „ungeschontes“ Vermögen aufbrauchen. Huch - wo sind denn all die so grandiosen „Arbeitsmarkterfolge“ der Agenda 2010 auf einmal abgeblieben? Natürlich - eigentlich müssten wir es nicht extra erwähnen - aber die Studie wurde in der „Zeitschrift für Wirtschaftspolitik“ des IWP Köln veröffentlicht, das für seine außerordentliche Nähe zum Arbeitgeberlager bekannt ist. Ich kann Lesern nur empfehlen, sich - falls es die Zeit zulässt - auch mal die Beiträge im Forum zu diesem Spiegelartikel ein wenig anzusehen. Die Annahme, die Mehrheit unserer Mitbürger sei noch mit Vernunft ausgestattet, wird hier bisweilen auf eine harte Probe gestellt. Doch nun zum Thema selbst...

Auch wenn die - vermutlich eilends dazu geflickte - Präambel der Zusammenfassung es zu kaschieren versucht - die Kernaussage der Studie bleibt mehr von ihren Inhalten, als von ihrem Tatsachengehalt her höchst brisant - und es werden sehr wohl Schlüsse gezogen. Zum Beispiel jener... „Viel zu hoch...“, sei er also, der dem ALG2 als Regelsatz zugrundegelegte Betrag für den Lebensunterhalt eines Menschen INKLUSIVE soziokultureller Teilnahme. Die Wirtschaftswissen-schafter (bezeichnenderweise...) Friedrich Theißen und Christian Fischer von der TU Dresden ermittelten mal flugs, dass im Grenzfall auch 132 € statt der damaligen 331 € ausgereicht hätten, um - wie sie formulieren - die Ziele der „sozialen Mindestsicherung“ zu erreichen.

Wie immer - wenn man selbst nicht betroffen ist - rechnet es sich sehr leicht und unbefangen mit anderer Leute Lebensumstände. Zudem kann man von Wirtschaftswissenschaftlern wohl wirklich nicht erwarten, dass sie auch nur im Ansatz etwas davon verstehen, wie Gesellschaften funktionieren und wie sich eine Mindestsicherung nach ihren bizarren Vorstellungen für Menschen in der Realität „anfühlt“. Hier bietet sich die einfache Frage an, zu welchen Ergebnissen die beiden wohl gekommen wären, würden sie selbst betroffen sein.

Doch schauen wir kurz genauer hin - diese Zahlen kann man so ja keinesfalls stehen lassen. Für die außerordentliche Abweichung muss es Erklärungen geben - und die gibt es auch. Die beiden „Fachleute“ setzten in ihrem „Minimalszenario“ immerhin satte 3 € (!) im Monat für die soziokulturelle Teilnahme des Menschen an. Wenn man nach sieht, wie sich soziokulturelle Teilnahme nach Theißen/Fischer definiert, so erfahren wir - Zitat:

1 € für Kommunikation: Pauschale für schriftliche Kommunikation. Radio- TV-Anschluss sowie 20 Min./Tag Internet in Stadtbibliothek“ (Na, wenn da mal nicht kräftig aufgerundet wurde...)

2 € für Freizeit und Unterhaltung: „Pauschale für Stadtbibliothek. Ermöglicht Zugang zu Internet, Zeitungen, Zeitschriften und Büchern. Unterstellt wird darüber hinaus eine Freizeitgestaltung in Form von Gesprächen, Spaziergängen, Nutzung von Parks, Teilnahme an öffentlichen Festen (!) etc...

Tja - dumm gelaufen, wenn man auf dem Lande lebt, wo es weder einen brauchbaren ÖPNV noch eine leistungsfähige Stadtbibliothek gibt. Noch dümmer - wenn man seinen Antrag zur Befreiuung von GEZ-Gebühren einen Tag zu spät abschickte (dies allein verbraucht die üppige Kommunikations- pauschale eines Monats bereits zu 55%...). Die dann nämlich fälligen 17 € sind nicht nur nicht im Regelbetrag der Herren Theißen/Fischer enthalten - unser Bedürftiger müsste für dieses kleine Malheur schlichtweg eine knappe Woche „hungern“, weil das Budget nichts anders mehr zuließe.

Auch erhebt sich die Frage, ob denn all die sinnvollen „Maßnahmen“, die die ARGEN ihren „Kunden“ so angedeihen lassen, sich wirklich vollumfänglich an den Öffnungszeiten der Stadtbibliotheken inkl. der An- und Abfahrtswege orientieren. Außerdem soll man sich ja auch noch permanent bewerben - wofür aber lediglich 260 € pro Jahr je ALG2-Bezieher als Kostenerstattung gegen Nachweis vorgesehen sind - und das für sämtliche Bewerbungskosten zusammen. Wie das mit 20 Minuten pro Tag in der Stadtbibliothek allein zu machen sein soll, lassen unsere Propagandisten offen. Es gibt Regionen - auch im Westen - die haben Arbeitslosenquoten von fast 20%. Ob die Stadtbibliotheken von Dortmund oder Duisburg diesem Ansturm wirklich gewachsen wären?

Was ist, wenn unser ehedem „mobiler“ Arbeitnehmer nach einer beruflichen „Odysee“ fernab von all seinen Lieben zum Bedürftigkeitsfall wird? Also mal einen Brief schreiben oder gar telefonieren - von Reisen reden wir lieber erst gar nicht - ist nach Ansicht der „Wissenschaftler“ offenbar kein Bestandteil eines menschenwürdigen Lebens - auch nicht zu Geburtstagen, Feiertagen, Todesfällen usw. Bewerben ohne Telefon ist übrigens auch eine spannende Angelegenheit... Doch es steht des dem Bedürftigen natürlich frei, auf verschüttete Methoden wie Trommeln oder Rauchzeichen zurückzugreifen...

Ich denke - die ganze Lächerlichkeit dieser Studie ist bereits deutlich. Als Kommentar spende ich eine kostenlose Idee für Bertelsmann/ZDF/RTL/Sat1: lassen sie uns einen „Theißen/Fischer-Cup“ stiften - eine quartalsweise live gesendete Casting-Show nach dem Motto: „Mit wie wenig Euronen kann man einen Monat um die Runden kommen...“ - Teilnahmeberechtigt: HartzIV-Empfänger... und der Gewinner darf dann seine karge Wohnung in sozialgerichtlich festgestellter Größe bis zur nächsten Sendung mit dem schicken Wanderpokal verschönern...

Lächerlichkeit hin oder her - auf jeden Fall sind wir den ersten rund 60 Euro Differenz schon mal auf die Schliche gekommen. Die zweiten ergeben sich gänzlich „zwanglos“ - denn nach Theißen/Fischer ist es ja nur zum Wohle des Bedürftigen, wenn dieser mit Antragsabgabe seinen Tabak- und Alkoholkonsum schlagartig einstellt. Schließlich verlängert dies nebenbei auch seine Nutzungsdauer als Druckgenerator für den Arbeitsmarkt...

Für den Wahnsinnsbetrag von 68 € im Monat erhält unser Bedürftiger nach Theißen/Fischer bereits eine „Ausreichende gesunde abwechslungsreiche Kost (Essen und Getränke...) nach Empfehlungen der WHO...“. Gab es ähnliche Sprüche nicht schon einmal zu anderen Zeiten? Gab es dort zeitgleich im Verborgenen nicht völlig unähnlich widerliche „Berechnungen“ - wieviel Reichsmark die „Entsorgung von Menschen“ pro Kopf kosten würde - und welches wohl der billigste Weg dazu sei?

Auf jeden Fall aber gilt - das in der Studie zugrunde gelegte Preisniveau war 2005! Heute kosten z.B. Billignudeln statt damals 29 Cent pro Pfund 55 Cent - und überhaupt haben sich hier Billiglebensmittel mit Raten weit über der allgemeinen Preissteigerung verteuert. Ich behaupte - einen solchen Korb bekämen die Herren Theißen/Fischer heute mit absoluter Sicherheit nicht mehr zustande.

Nicht schlimm - es gibt ja noch die „Tafeln“ mag man entgegnen... Ich möchte die Tafeln des Landes mal sehen, wenn da 5,3 Mio ALG2 Bezieher regelmäßig vorstellig werden... Und abermals - was ist in abgelegenen Regionen, wo es vieles der städtischen Infrastruktur schlicht nicht gibt? Und schon haben wir die Ursache für weitere rund 60 € Differenz geklärt.

Der Rest rekrutiert sich aus ein einigen Peanuts, wie - wieso braucht ein Hartzling eigentlich einen Regenschirm? Shampoo einpacken - und Wasser sparen scheint da offenbar die fortschrittlichere Variante nach Theißen/Fischer. Und dann doch - den Herrschaften ist ein kleiner, aber wie könnt's anders sein - gemeiner - Fehler unterlaufen.

Denn sie vergleichen ihre Mondzahlen zwar mit dem vollen Regelsatz, behaupten aber, dieser sei ohne Wohnungs-, Strom- und Heizkosten. Dies ist die Unwahrheit - denn ein ALG2-Bezieher hat die Stromkosten aus seinem Regelsatz zu finanzieren - womit wir denn die Abweichung zu annähernd 100% aufgeklärt hätten - und ALG2-Bezieher in der Theißen/Fischer-Welt eben gänzlich stromlos da stehen...

Fazit zur Rechnung: nicht einmal den Papierberg ist sie wert, auf dem sie angerichtet wurde. Eine sachliche Begründung warum und wieso die Autoren von seit langen Jahren praktizierten Methoden zur Errechnung solcher Beträge abweichen, fehlt - außer dem Hinweis: diese sei „intransparent“. Vielleicht hätten Theißen/Fischer das einfach auch nur denjenigen überlassen sollen, die etwas von der Materie verstehen?

Ihr Hinweis z.B., es gäbe bundesweit überall Billigmarktfilialen ist weder stichhaltig nachgewiesen, noch ist er hinreichend für den von der Studie immerhin erhobenen Anspruch auf gar bundesweite Gültigkeit. An die Stelle des - zumindest in Augen der Autoren offenbar intransparenten - Verfahrens setzen sie sodann flugs ihre eigene irrtums- und fehlannahmenbehaftete Rechnung und erzielen damit (... wer hätte das je gedacht...) Einsparungen!

Viel mehr als hier nun Cent-Fuchserei zu betreiben, finde ich die gemäß der Präambel ja nicht existenten Schlüsse von Interesse, die sehr wohl gezogen werden - Zitat: „...Dies bedeutet: Der Regelsatz ist nicht zu niedrig. Er liegt vielmehr oberhalb der Beträge, die in enger und weiter Interpretation aus den formulierten Zielen der sozialen Mindestsicherung ableitbar sind.

Mutige Aussage - und falsch dazu. Wie oben gezeigt, ergibt sich schon theoretisch für bestimmte Konstellationen ein durchaus höherer Bedarf und die Methodik weist ohnehin gravierende Mängel auf. Das von ihnen verwendete Wort „Ableitbar...“ suggeriert aber, ein höherer Bedarf kann nicht gegeben sein.

Zudem verkennen Theißen/Fischer hierbei, dass der Regelbetrag immer auch einen verwaltungs- technischen Hintergrund haben wird, schließlich soll und muss er für ALLE Konstellationen einigermaßen hinreichend sein. Wollte man hiervon abweichen, müsste die Verwaltung tatsächlich allerorts verschiedene Beträge auszahlen - was wiederum mit erheblichen Mehrkosten sowie schweren Rechtsproblemen verbunden wäre.

Doch weiter mit den Schlussfolgerungen - Zitat:

...Ebenso wird das formulierte Ziel, in Würde zu leben, nicht erreicht. Ein Leben in Würde hängt weniger von Geldleistungen ab als von der Möglichkeit, zu arbeiten, sich einzusetzen, die Chance zu bekommen, etwas leisten zu können, um anerkannt zu werden. Eine auf Geldzahlungen beschränkte Hilfe wird diesem Ziel nicht gerecht. In einer unübersichtlicher werdenden Welt, in der viele den Arbeitsmarkt nicht mehr verstehen und sich nicht einbringen können, kann aus dem formulierten und aus dem Grundgesetz abgeleiteten Ziel, den Menschen Würde zu verschaffen, ein Anspruch auf Arbeit abgeleitet werden. Arbeit würde automatisch das Einkommen der Menschen anheben...“

Unsere „Wissenschaftler“ habe es anscheinend eher weniger mit Logik. Menschenwürde mag zwar weniger von Geldleistung abhängen - diese Abhängigkeit aber wächst natürlich in dem Maße an, wie die Geldleistung sich dem physischen Existenzminimum annähert.

Noch bevor wir uns der Arbeit als „Quell von Menschenwürde...“ zuwenden - zunächst mal eines. Wenn dem Unglücksraben in seiner Arbeitslosigkeit jede - aber auch jede eigenständige persönliche Entscheidung „abgenommen“ wird (man kann dazu auch sagen: ihm wird etwas „aufgezwungen“...) - so beeinträchtigt dies seine Menschenwürde doch wohl in noch viel grundlegenderer Weise, als es durch die bloße Abwesenheit von Arbeit ohnehin schon der Fall ist.

Genau dies ist die reale Konsequenz aus den Milchmädchen-Rechnungen von Theißen/Fischer. Hier geht ein Mensch überhaupt nicht mehr mit Geld um - jeglicher persönlicher Gestaltungsraum ist ihm genommen. Zum Beispiel kann er nicht mehr entscheiden, ob er in seiner Wohnung bliebt, obwohl sie eventuell (was ja vorkommen soll....) 20 € paarwas über dem kostet, was Ämter als sozialgerichtlich festgestellte Wohnungskosten ansehen. Vielmehr müsste er wegen ein paar Euro - die sich beim aktuellen Regelbetrag vielleicht noch hin und her schieben lassen, sein gewohntes Lebensumfeld verlassen - will er nicht hungern oder barfuss laufen.

Es bleibt dabei eine Tatsache, dass es nicht genügend Wohnraum in Absurdistan gibt, der den amtllich „als angemessen“ angenommenen Unterkunftskosten entspricht. Des Weiteren - und das sollten selbst Wirtschaftswissenschaftler nun wirklich wissen können - eine Wohnung mit guter Anbindung an den ÖPNV und womöglich in Reichweite der Stadtbibliothek erzielt auf dem Wohnungsmarkt genau wegen solcher Eigenschaften höhere Mietpreise...

Doch nun zum Thema „Arbeit“ in den Schlussfolgerungen von Theißen/Fischer. Immerhin leiten sie aus der Menschenwürde einen Anspruch des Menschen auf Arbeit ab. Doch Vorsicht - denn davor heißt es: „...In einer unübersichtlicher werdenden Welt, in der viele den Arbeitsmarkt nicht mehr verstehen und sich nicht einbringen können...“.

Wieder mal die alte Leier.... Professor Unsinn lässt grüßen! Die Arbeitslosen sind selbst schuld an ihrem Schicksal - entweder zu faul oder zu blöd. Warum haben sie ihren Arbeitgeber auch nicht längst aufgekauft? Eine logisch falsche und längst überholte Sicht der Dinge - Arbeitslose können sich ihre Arbeitsplätz in der modernen Wirtschaft nun mal nicht selber schaffen... Neu ist lediglich, dass sich inzwischen auch die Wirtschaft selbst damit immer schwerer tut - denn sie muss ja immer astronomischere Renditeansprüche erfüllen.

Selbst für noch so piffige oder sinnvolle Ideen schwinden aber die Märkte, wenn der Masse der Bevölkerung immer weniger Geld zur „freien“ Verfügung bleibt. Genau dies ist aber ist eine bereits eingetretene Folge aus der hirnlosen Anwendung neoliberaler Prinzipien. Die inzwischen durch Schönheitsoperationen an der Statistik weitgehend vernebelte Massenarbeitslosigkeit gehört ebenso dazu - die frischen ALG2- Zahlen des statistischen Bundesamtes zeigen es einmal mehr...

Doch - ginge es nach Theißen/Fischer - käme es noch schlimmer. Denn eine Absenkung von ALG2 gegenüber dem aktuellen untereren Vergleichseinkommen, wie sie es indirekt postulieren, hätte auch noch eine weitere Folge: es entstünde wieder neuer Spielraum bei Niedriglöhnen - und zwar welcher nach „unten“. Dies bedeutet - angesichts des Drucks auf dem Arbeitsmarkt wären vor allem Menschen im Niedriglohnbereich hierzulande schnell gezwungen, für abermals weniger zu arbeiten... Und so gelangte man binnen kurzer Zeit wieder beim gleichen Verhältnis: soziale Mindestsicherung / Unteres Vergleichseinkommen an - allerdings eben um eine Drehung an der Abwärtsspirale „bereichert“...

Die Annahme, dass in Zeiten höchster Produktivität und anhaltend hoher Produktivitätszuwächse die willkürliche Verbilligung des Faktors Arbeit quasi wie „von Geisterhand“ mehr Arbeitsplätze schaffe, ist eben - wie inzwischen weltweit bewiesen ist - nichts weiter als eine interessengeleitete Lüge. Schlimmstenfalls schafft das mehr Armut... aber nichts sonst von nachhaltiger Wirkung.

Wirtschaftswissenschaftler halten so gerne den guten alten Adam Smith und seine unsichtbare Hand der Märkte hoch - doch halt: Markt samt Hand sind an eine wichtige Voraussetzung gebunden: nämlich an die Unabhängigkeit der Marktteilnehmer! Menschen in HartzIV aber sind längst keine unabhängigen Teilnehmer auf dem Arbeitsmarkt mehr. Sie müssen - per Gesetz - auch solche Löhne akzeptieren, die sie nicht einmal mehr aus ihrer Bedürftigkeit befreien. Wie nur soll sich ein so vernünftiger „Preis“ von Arbeit bilden können, wenn ein erheblicher Teil der „Verkäufer von Arbeit“ längst unter Zwangsbewirtschaftung steht?

Ganz sicher jedoch ist eine sinnvolle untere Lohngrenze immer dort erreicht, wo ein Mensch von seiner Arbeit kaum noch leben kann... und sie ist bereits überschritten, wenn er trotz Arbeit zusätzlich auf Sozialtransfers angewiesen bleibt. Derzeit ist dies für rund 1,2 Mio Niedriglöhner bereits der Fall.

Theißen/Fischer unternehmen mit ihrer „Studie“ den widerlichen Versuch, in unserem gewiss nicht armen Land das weitere Schleifen des soziale Existenzminimums bis an die Grenze des physischen Existenzminimums hoffähig zu machen. Mit beispiellosem Zynismus propagandieren sie - Zitat: „...Hartz-IV-Empfänger erhalten keine Notlagenunterstützung, sondern, bekommen einen Lebens- standard finanziert, der dem der allgemeinen Bevölkerung im unteren Einkommenssegment gleicht....

Auch dieser Satz ist falsch - sogar nach ihrer eigenen Studie. Denn sie setzen dort selbst das untere Vergleichseinkommen (EVS) mit 476 € an - was nun doch, soviel Präzision muss einfach sein, um einiges mehr als 331 € sind. Die Studie und ihre Verarbeitung in den Medien täuscht letztlich über einen Umstand: Der Skandal liegt nicht im zu hoch bemessenen ALG2 - der eigentliche Skandal ist die hiesige Lohnentwicklung des letzten Jahrzehnts. Hierfür sind Hartzlinge nicht verantwortlich zu machen - vielmehr sind sie nur die ersten der für genau diesen Zweck missbrauchten Opfer.

Unter die Hartz-Gesetze zu fallen, ist heute außerdem keine nur vorübergehende Notlage mehr, wie anno dazumal - sondern für viele Millionen die vorläufig einzige Lebensperspektive, die ihnen in dieser kranken Gesellschaft überhaupt noch bleibt...

In ihren teilweise falschen Passagen zu Menschenrechten blenden Theißen/Fischer etwas völlig aus: nämlich die rechtliche Situation von Hartzlingen. „Normale“ Bürgerrechte sind für diesen Personenkreis praktisch nicht mehr existent. Wirtschaftlich sind sie zudem ohnehin längst marginalisiert (enteignet und ohne frei verfügbares Einkommen...). Und dies zusammen kann in einer Gesellschaft im Wirtschaftswahn nur eines bedeuten: diese Menschen werden aus Sicht der Wirtschaft immer überflüssiger - sollten am besten gar nicht da sein...

Nach Theißen/Fischer sollen diese dann auch bis heran an ihre Überlebensgrenze marginalisiert werden. Vergessen wollen wir dabei aber nicht - ihnen würden sehr bald Millionen von Niedriglöhnern, Armutsrentnern und andere Sozialfälle folgen... versuchen Sie bitte einmal, sich den dazugehörigen „Binnenmarkt“ vorzustellen...

Jedenfalls gebührt diesen Herren die fragwürdige Ehre, kräftig an einem der letzten verbliebenen Funda- mente gesellschaftlichen Konsenses zu rütteln, nämlich einem allerletzten Rudiment gesellschaftlicher Solidarität. Nicht ohne Zynismus machen sie das fest an den nach ihrer Ansicht „...formulierten Zielen der sozialen Mindestsicherung...

Hierzu ist zu sagen: es kann im Gültigkeitsbereich unseres Grundgesetzes kein egal wie formuliertes Ziel welcher Gesetze auch immer geben, das im Widerspruch zu Artikel 1 steht. Da ist es völlig wurscht was die Herren Theißen/Fischer von alldem nun verstanden haben oder nicht (wobei letzteres zu überwiegen scheint...). Bemerkenswert indes bleibt, dass absurdistanische Presseagenturen, der Spiegel und das IWP nichts Dümmeres zu tun haben, als dieses Traktat auch noch in alle Winde zu verbreiten.

Vor allem die Kernthese von Theißen/Fischer, Arbeit erst eröffne ein Leben in Menschenwürde, stellt schon Etliches auf den Kopf. War da nicht schon Münte mal auf dem Holzweg? „Die Würde des Menschen ist unantastbar...“ heißt es in unserem Grundgesetz gleich im ersten Artikel. „Sie zu achten und zu schützen, ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ heißt es dort weiter. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Aber das scheint den beiden während ihrer Beschäftigung mit Bettelfuhren des Mittelalters und bismarckscher Sozialpolitik etwas abhanden gekommen - ebenso wie der Umstand, dass das Wort „Arbeit“ nicht einmal im weiteren Umfeld auftaucht. Von einer irgendwie gearteten Abhängigkeit der Menschenwürde von Arbeit gar steht da weit und breit nichts....

Aber es heißt in Artikel 3: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich...“. So etwas schreibt man nicht aus Jux und Dollerei in Verfassungen - sondern weil es der einzig mögliche Konsens ist, auf dem sich eine friedliche Gesellschaft überhaupt errichten lässt. Ob es für eine Wirtschaft wirklich auf Dauer lohnend kann, daran zu rütteln?

Interessant auch noch der Artikel 12, Absatz 2: „...Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienst- leistungspflicht“. Die Hartz-Gesetze verletzen besonders diesen Artikel schon von Hause aus - denn Hartz-Sanktionen entziehen den Betroffenen die Lebensgrundlage - was nach Theißen/Fischer direkt in einen Eingriff in die körperliche Unversehtheit münden würde. Was - wenn nicht Zwang - ist es, wenn jemand unter Androhung lebensbedrohlicher Sanktion zu einer bestimmten Arbeit gezwungen wird?

Der Hartz-Mechanismus richtet sich dabei im Kern noch nicht einmal gegen die unter ihm Leidenden - jene sind nur Mittel zum Zweck. Er ist ein vielmehr ein höchst piffiger Mechanismus, um die „unsichtbare Hand“ des Arbeitsmarkts in Ketten zu legen und denselben sodann nach von den Vorstellungen einer gewissen Klientel um zu gestalten. Genau dies haben wir in den letzten Jahren auch erlebt.

Hartz-Dasein ist derart „luxuriös“, dass Arbeitnehmer landauf und landab längst die blanke Angst vor dem Verlust ihres Jobs gepackt hat - was erst die Basis für all die widersinnigen Arbeitszeitverlängerungen und Lohnsenkungen schuf. Ein hinterhältiges Schmierenspiel, wie es schäbiger kaum sein könnte.

Wer hier glaubt, dieser Prozess finde irgendwann einmal ein Ende - der irrt. Und zwar aus einem ganz einfachen Grund: für jeden Einkommensmillionär, der heute neu „entsteht“, müssen am armen Ende der Gesellschaft gleich hunderte „marginalisiert“ werden. Und es entstehen fortwährend neue - so frisst sich der Prozess von unten immer höher hinauf zu Gesellschaftsschichten, die vor Jahren noch glaubten - dieses Phänomen werde sie nie erreichen.

Unter dem Strich aber bleibt: die Gesellschaft verliert rapide an Effizienz und macht immer weniger einen optimalen Gebrauch von dem in ihr versammelten Human-Kapital. Hoch- und Höchsteinkommen leisten in Relation weit weniger Beiträge zur Gesellschaft, sowohl im Hinblick auf Konsum wie auch in Punkto Abgaben. Angesichts der Studie wäre noch zu ergänzen: Und im Falle Theißen/Fischer scheint es auch mit der Leistung nicht so arg weit her zu sein...

So kann man den Diskutanten im Spiegel-Forum nur den einen Rat geben: statt dem Nachplappern neoliberaler Propaganda und anderem Kinderkram zu fröhnen, ist es allerhöchste Zeit, mal das eigene Hirn einzuschalten. Der lange Weg ins Absurdistan von heute wurde nicht zuletzt auch deswegen möglich, weil es hierzulande offenbar immer noch allzu leicht fällt, Arme gegen andere Arme, Opfer gegen andere Opfer aufzuhetzen und gegeneinander auszuspielen.

Natürlich ist verständlich, dass jemand, der kaum mehr als Hartz IV verdient, mit Argwohn auf Menschen blickt, die den lieben langen Tag nichts tun - und trotzdem nicht viel weniger haben, als sie selbst. Aber das täuscht nur allzu leicht über einen ganz entscheidenden Umstand hinweg: Weder bestimmt der Niedriglöhner seinen Lohn, noch reißt sich der Hartzling um sein Schicksal...

Und sogar - selbst wenn jemand mit dem „modernen Arbeitsmarkt“ nicht klar kommt... Halten Sie es es wirklich für klug und sinnvoll, wenn Sie ihre Zustimmung dazu geben, ihm auch noch das Überleben streitig zu machen? Stellen Sie sich doch einfach mal ein paar ganz naheliegende Fragen, wie z.B:

Was wird denn sein, wenn mein Job mal baden geht - und ich selbst in diese Mühle geraten sollte? Wie wird es sich für mich 'anfühlen' - und für meine Familie?

Wieso eigentlich haben so viele immer weniger - sowohl ich wie auch der Hartz'ler von nebenan - wobei bei mir sogar noch hinzu kommt, dass ich voll arbeite?

Habe ich denn wirklich dadurch mehr Geld, wenn ich künftig wieder besser auf den Nachbarn 'herabsehen' kann, weil er - zumindest für kurze Zeit - wieder deutlich weniger haben wird, als ich?

Wem wohl würden eventuelle Einsparungen nach Theißen/Fischer letztlich zu Gute kommen - mir etwa, wo ich mir via Zustimmung selbst neue Billig-Konkurrenz schaffe?

Warum aber sacken auf der anderen Seite einige Wenige - nicht selten höchst überschaubar talentierte Menschen - schon in nur einem Jahr ein Vielfaches dessen ein, was ich und meine Vorfahren sich über Generationen je erarbeiten könnten...?

Es kann so gar nicht schaden, sich mit solchen ganz einfachen Fragen mal ohne die „Hilfe“ von BILD, Fernsehen, Experten, Professoren, Verbänden und Politikern zu beschäftigen. Möglicherweise fällt dem Einen oder Anderen dann ja doch etwas dabei auf...