Natur unerwünscht?
Geschrieben von Jürgen Scheffler   
Samstag, 2. Oktober 2010
Manchmal tut es weh, Tag für Tag mit jener gefährlichen Mischung aus Naivität und Ignoranz konfrontiert zu werden, die immer noch eine Mehrzahl der heutigen Mitmenschen auszeichnet. Dies trifft auch für die von der breiten Öffentlichkeit bislang weitgehend unbeachtete Tatsache zu, dass dem pharma-skeptischen Anteil der EU-Bevölkerung ein veritabler Doomsday bevor steht. In Umsetzung der EU-Richtlinie 2004/24/EG wird ab dem 1. April 2011 der Verkauf sämtlicher traditionellen pflanzlichen Heilmittel in der EU verboten sein, die bis dahin nicht ein Registrierungsverfahren durchlaufen haben. Diese auch THMPD (Traditional Herbal Medical Product Directive) genannte Richtlinie der EU sieht vor, dass Zubereitungen aus Kräutern, die bisher als Naturheilmittel, Nahrungs- und Nahrungsergänzungsmittel verfügbar waren, nun als medizinische Produkte deklariert werden, die eben ein solches Zulassungsverfahren zu durchlaufen haben. In EU-gewohntem Zynismus wird für besonders bewährte Mittel ein sogenanntes "vereinfachtes" Zulassungsverfahren in Aussicht gestellt - zynisch deshalb, weil Beträge um 100.000 € für den Durchlauf eines derartigen Verfahrens kursieren. Indes bleibt schon die Direktive selbst ohne juristische Assistenz kaum noch lesbar. Sicher muss befürchtet werden: sie beinhaltet praktisch das Aus für alle Anbieter, die nicht zum Kreis der Großkonzerne zählen - denn nur diese könnten sich solche Verfahren, in größerer Anzahl zumal, überhaupt "leisten", weil nur sie deren Kosten dann wie üblich und ab 1.4.2011 dazu im Schutze eines neu geschaffenen Quasi-Monopols samt saftigen Gewinnaufschlag an den Kunden weiter geben können. Und da gibt es immer noch kurzdenkende Mitmenschen, die das ganz in Ordnung finden oder gar begrüßen - nach dem Motto: hier wird doch lediglich Scharlatanen, die andere mit haltlosen Heilversprechen übers Ohr hauen, das Handwerk gelegt. Diese Argumentation, der oberflächlich betrachtet durchaus ein Hauch von Logik anzuhaften scheint, erweist sich bei näherem Hinsehen nicht nur als haltlos - vielmehr überdeckt sie die konkret zu erwartenden Folgen der fehlgeleiteten EU-Direktive nahezu vollständig. Grund genug für Cogitosum, sich dieses traurigen Themas anzunehmen und es einmal näher vorzustellen.

Das erste Defizit der THMPD findet sich bereits in der Ausgangslage. Ein in irgendeiner Form drängendes Problem mit Naturheilmitteln, ganz im Gegensatz zu Pharmaprodukten, existiert nämlich nicht - zumindest nicht aus Sicht der Verbraucher. Noch entscheidet ein Jeder selbst und frei, ob und welches Naturheilmittel er benutzen möchte oder nicht. Und über die Eigenschaften und Qualität der Mittel sowie über die Seriosität von Anbietern kann er sich im Allgemeinen hinreichend informieren. Selbst im eher seltenen Grenzfall erwirbt er ein vielleicht wirkungsloses Mittel - dem allerdings immer noch ein entscheidender Unterschied zu jenem anhaftet, was die Chemieküchen der Pharma-Konzerne verlässt: größere Neben- oder gar Schadwirkungen sind in aller Regel nicht zu erwarten. Diese Wahlmöglichkeit möchte die EU ihren Bürgern nun gerne wegnehmen. Wie immer tut sie dies im Dienste der großen Pharma- und Lebensmittelkonzerne, denen die lästige Konkurrenz aus der traditionellen Naturheilkunde offenbar schon lange ein Dorn im Auge ist und die sie daher nun ein für alle male beseitigen möchten.

Der zur Erlangung dieses Ziels gewählte Weg ist perfide und nicht unbedingt auf Anhieb zu durchschauen. Grundsätzlich ist es ja zu begrüßen, wenn die EU Rechtsbestände schafft, mit der sich überzogene Werbeaussagen von Anbietern oder minderqualitative Produkte auch verfolgen lassen. Auch an der Erstellung einer Pflanzen-Monographie ist zunächst wenig zu bemängeln - wenngleich die Zusammensetzung der langen Liste der hierfür zuständigen EMA-Experten gewiss einer näheren Überprüfung wert wäre - eine nur kurze Überprüfung einiger der deutschen Listenplatzinhaber, ergab, dass hier Personen mit einer zumindest erkennbaren Skepsis gegenüber dem aktuellen Naturheimittelmarkt gelistet sind. Das ganze vielleicht doch eine eher harmlose Ausgeburt von Bürokraten-Hirnen? Mitnichten...

Der eigentliche Trick liegt nämlich tiefer, gleich im Ansatz, verborgen: Unter dem Vorwand, einige wenige bedenkliche Einzelfälle bekämpfen zu wollen, wird hier ein pauschales Regulierungs-Monster in die Welt gesetzt, über das kaum öffentliche Transparenz oder Kontrolle besteht. Abertausende Produkte mit teilweise jahrzehntelanger oder gar noch längerer Verwendung (auch in der EU...) werden plötzlich pauschal einem kostenträchtigen Behörden-Hindernislauf mit unsicherem Ausgang unterworfen. Dabei jedoch wäre unbestreitbar eine Verfolgung der wenigen bekämpfungswürdigen Werbelügen oder signifikanten Qualitätsmängel anhand des verdächtigen Einzelfalls jederzeit das Mittel der Wahl, und nicht einmal neues Recht wäre hierzu notwendig.

So aber soll künftig ein THMPD-Verfahren vorgeschrieben werden (welches in vielem der Zulassung synthetischer Arzneimittel ähnelt...), und das für Kleinunternehmen ein unkalkulierbares Risiko darstellt. Und genau das ist es, worauf in Wahrheit abgezielt wird - und zwar gleich mehrfach. Dem Registrierungszwang haftet grundsätzlich eine ähnliche Auswirkung wie denen von Patenten an - der freie Marktzugang für Anbieter wird massiv eingeschränkt. Im Falle der traditionellen Heilmittel muss dieser Weg als Krücke her, weil Pharmakonzerne sich seit Jahrhunderten bekannte Naturmittel ja schlecht patentieren lassen können - und zudem wären die nicht einmal, wie sonst üblich, auf dem Wege obskurer Übernahmemanöver zugänglich. Obwohl Naturheilkräuter allerorten kostenlos wachsen, sollen Menschen also künftig nur noch legal in den Genuss ihrer Wirkung kommen können, wenn irgendein kapitalschwerer Konzern dahinter steht - bzw. sich daran dumm und dämlich verdient.

Des weiteren werden wertvolle tradierte Erfahrungen über die Eigenschaften und Vorzüge von Naturheilmitteln pauschal in die Verfügungsgewalt einer Behörde gerückt, die demokratisch praktisch nicht legitimiert ist (EU-Verwaltung) und die dafür aber unter dem direkten Einfluss jener Konzerne steht, die von der Regelung profitieren werden. Da wird nämlich ausschlaggend werden, was dereinst in der ominösen EU-Pflanzenmonographie zu einzelnen Pflanzen festgeschrieben sein wird. Die schaut zwar heute - noch - vergleichsweise harmlos aus. Dies aber könnte sich rasch ändern, wenn die absurden Regularien erst einmal zu Alltagsrecht geworden sind - denn eine effektive demokratische Kontrolle gibt es weder über Monographie noch über Genehmigungspraxis. Hier Rechtswege zu beschreiten, ist wiederum von vergleichbaren Defiziten wie das Registrierungsverfahren gekennzeichnet - eben wegen der damit verbundenen enormen Kosten.

Pharmakonzernen wird es so ein Leichtes sein, dieses Instrumentarium über die Zeit auf ihren bestens ausgebauten Kanälen der Einflussnahme in ihrem Sinne und zu ihren Gunsten zu manipulieren. Mit Marktwirtschaft hat das Ganze überhaupt nichts mehr zu tun - vielmehr geht es klar um das Gegenteil davon. Wertvolles altes Wissen könnte so gar über die Zeit verloren gehen. Angenommen werden darf, dass es in jüngerer Zeit vermehrt zu empfindlichen Rückschlägen für die Konzernwirtschaft gekommen sein könnte (siehe Impfpanne mit der Schweinegrippe...). Eine wachsende Zahl von Menschen wenden sich von den industriellen Massenprodukten mit ihren teilweise merkwürdigen bis höchst bedenklichen Inhaltsstoffen ab und suchen ruhig und friedlich nach Alternativen, um ihre Bedürfnisse zu decken.

Dies gilt besonders auch für den Arzneimittelbereich - immer mehr Patienten lehnen Verordnungen von Ärzten ab und suchen statt dessen auf eigene Faust oder in Gruppen nach Hilfe. Naturheilmittel, meist günstig und frei zugänglich, unterstützen sie hierbei in beträchtlichem Umfang. Zugleich halten Naturprodukte auch auf Feldern Einzug, die zuvor schon von monopolartigen Strukturen nahezu vollständig "erobert" geglaubt waren. Natursalze (ohne aluminiumhaltige Streuverbesserer) und Naturzucker (z.B. Stevia anstelle des bedenklichen Industriezuckers oder gar synthetischen Süssstoffen wie das widerwärtige Aspartam) sind hier Beispiele - und sie alle wurden bzw. werden von EU-Behörden nach Kräften behindert.

Es wird an uns Bürgern liegen, ob wir uns solche Vorgehensweisen weiter bieten lassen oder nicht. Wie zuvor schon im Falle Stevia oder Natursalz (beide mussten halt lange als Badezusatz verkauft werden...) scheiterte die behördliche Behinderung bislang meist an der anhaltenden Nachfrage sowie nicht ausreichenden Rechtsmitteln zur vollständigen Unterbindung des Handels mit ihnen. Mit der THMPD aber wird sich das nun ändern und das Ganze um eine Eskalationsstufe erhöht. Solche legalen Umgehungen fragwürdiger Verbote werden dann kaum noch möglich sein... Hiermit bleibt den nachfragenden Bürgern nur noch die Wahl, sich legal dem Diktat der Konzerne zu beugen oder aber in Wahrnehmung ihrer natürlichen und veräußerbaren Freiheit die entsprechenden Gesetze zu missachten.

Leider machen sich viel zu viele Menschen heute immer noch kein hinreichendes Bild über die tatsächliche Situation - und der ihr innewohnenden Gefahren. Dabei sollte allein die beeindruckende Liste schwerer und schwerster Arzneimittel-Skandale der jüngeren Zeit hierzu Mahnmal genug sein. Noch schwerer wiegt, dass das skandalöse EU-Vorgehen in diesem Punkt keineswegs isoliert da steht - auf vielen Gebieten brodelt es ähnlich: Dienstleistungsrichtlinie, Softwarepatente, grüne Gentechnik, Patente auf Leben, Einschränkung der Privatsphäre im Interesse von Verfolgunsanliegen der Unterhaltungs- und Softwareindustrie und vieles mehr...

Leider spricht Vieles dafür, dass selbst der friedfertigste Bürger sich demnächst noch weiter mit sehr unangenehmen Herausforderungen konfrontiert sehen wird. Tag für Tag wird deutlicher, in welchem Ausmaß Konzerne jene Politik bereits vereinnahmt haben, deren alleinige Berechtigung darin besteht, dass sie eigentlich im Sinne der Gesellschaft und demokratischer Gewaltenteilung zu betrieben werden hat. Wenn die Wirtschaftsmafia sich mit dem erreichten und für sich schon irren Ausmaß an Macht und Reichtum, dass sie sich bisher bereits unlegitimiert zu eigen machte, immer noch nicht zufrieden geben mag, sollte sie sich im Klaren darüber sein, dass sie nunmehr dabei ist, die Axt offen an die Wurzeln der modernen demokratischen Gesellschaft zu legen. Unübersehbare Folgen stehen zu befürchten, wenn politische Institutionen weiterhin so sorglos ignorieren, dass sie einzig und allein den Interessen des Souveräns - also denen des Volks - verpflichtet sind.

In den Zeiten global agierender Monster-Konzerne wird es im Gegenteil zu einer zunehmend wichtigeren Aufgabe dieser Institutionen, ihre Bürger und ihre Lebensräume gegen diese ausufernde Übermacht zu schützen - so wie es in den Anfängen der Republik mal ihre Aufgabe war, das Leben der Menschen vom Einfluss des verfiltzen Adels und seiner Günstlinge zu befreien. Wird dieser Weg verlassen, mutieren Gesetze - wie wir hier erleben - schneller zu willkürlichen Vogt-Erlassen als uns und jedem sonst lieb sein kann. Für solche aber besteht nach modernem Rechtsbegriff kein Anspruch auf Befolgung - da sie nicht mehr nach unseren gesellschaftlichen Grundlagen legitimiert sind. Gesetze gar, die sich auch nur in Teilen direkt gegen Menschen - oder ihren Grundrechtsbestand - richten, können a priori sowieso nicht legitimiert sein - doch auch solche gibt es (Beispiel: Hartz).

Dabei sind weder Wirtschaftskonzerne noch ihre Umsatz- oder Gewinninteressen in irgendeiner Weise Gegenstand demokratischer Grundlagen - folglich darf ihnen eigentlich auch überhaupt kein Einfluss auf die Politik zukommen. Stets sind und bleiben es immer nur Menschen, die Politik legitimieren können - und hier ist jeder Mensch genau so viel wert wie jeder andere - gleich ob arm oder reich, gesund oder krank, groß oder klein, stark oder schwach, mit oder ohne Job oder dieser oder jener Hautfarbe und auch dieser oder jener Religion. Aber wir alle wissen nur zu gut, wie sehr das Gegenteil inzwischen der Fall geworden ist. Und so wird mitten in der schweren Krise des Wirtschafts- und Finanzsystems sichtbar, in welchem Ausmaß auch unsere politischen Systeme einschließlich der eigentlich zur ihrer Kontrolle gedachten Medien ihren gesellschaftlichen Funktionen bereits entrückt sind.

Von Menschen aber kann weder erwartet noch verlangt werden, grob vernunftwidrige Gesetze zu befolgen - nur weil sie den Interessen irgendwelcher Konzerne dienen. Dies noch umso weniger, als manche Gesetze für Elitenangehörige zunehmend außer Kraft gesetzt scheinen. Die im Zuge der THMPD vorgesehenen Regelungen gehören eindeutig in diesen kritischen Bestand. In den Zeiten von Mega-Fusionen, Hedgefonds und Bankenrettung ist friedlicher demokratischer Widerstand ohnehin mehr gefragt, als zu vernünftigen Zeiten. Schwerwiegende Eingriffe in die Marktfreiheit aber wie im vorliegenden Fall (neben vielen vergleichbaren), die stets versuchen, dem Konsumenten sein Recht auf freie Entscheidung zu nehmen, beinhalten in Wahrheit, einem erwartenden oder möglichen Widerstand seine friedlichste und zugleich wirksamste Waffe zu nehmen - nämlich die Abstimmung mit der Kaufentscheidung des Konsumenten. Eine Verstrickung von eigentlich auf das Gemeinwohl vereidigten Politikern in derartige Machenschaften muss kurz über lang unweigerlich eine schwerwiegende Legitimitätskrise zur Folge haben.

Unsere kommerziellen Medien könnten wegen ihres enormen Einflusses hier sicher viel zu einem vernünftigeren Verlauf gesellschaftlicher Konflikt- und Diskussionsprozesse beitragen - jedoch befinden sie sich längst vollständig auch im Schraubstock der Wirtschaftsmacht. Und so ist es das Internet, das im Gerangel rapide an Bedeutung gewinnt, weil es zunehmend zur einzig verbliebenen unabhängigen Informationsquelle geworden ist. Hiermit wird auch klar, wieso gerade diese Unabhängigkeit des Internets immer mehr zum Ziel subtiler Angriffe von der Machtseite aus geworden ist... Die Zeiten bequemer Mainstream-Denkmuster aber sind unwiederbringlich vorüber und gefragt sind seit Längerem schon tragfähige Konzepte zur grundlegenden Renovierung eines Großteils gesellschaftlicher Institutionen - vom Finanz- und Wirtschaftssystem angefangen über die Massenmedien bis hin zu den politischen Systemen. Wie die Mächtigen aller vorangegangenen Epochen wären die heutigen eigentlich gut beraten, hier die Mitwirkung der Menschen zu suchen - und nicht der Versuchung zu erliegen, ihre ohnehin schon bestens gesicherten Interessen noch weiter gegen die Menschen auszubauen. Diesen Rat aber wollen sie anscheinend nicht annehmen...

Es bleibt zutiefst legitim und vernünftig, dass sich Menschen - wenn sie mögen - angesichts der chemischen Überfrachtung unserer Umwelt wieder dem zu wenden können, was aus teilweise Jahrtausende alter Erfahrung ins Heute herüber gerettet werden konnte. Es soll ja auch niemandem verboten sein, sich weiter der Schulmedizin sowie der über sie vertriebenen Arzneien und Produkte aus den Anlagen der Chemie- und Pharmariesen zu verschreiben. Unzulässig indes aber ist, hier diese Entscheidung via Bürokratie nicht nur zu behindern, sondern ihren Ausgang schlicht und ergreifend gleich ganz zu erzwingen, indem man für eine Seite der Entscheidung einen Konflikt mit Gesetzen konstruiert. Ein solch unbilliges Vorgehen beschädigt den Wert von Gesetzen als Ausdruck kollektiver Willensbildung zutiefst - und es greift weit in die persönliche Entscheidungsfreiheit ein, die ein verfassungsmäßig garantierter Freiraum ist. Solange hier niemand eine wasserdichte Liste von Opfern schwerer Fehlmedikation mit Naturheilmitteln mit schwerwiegenden Folgen vorweisen kann, besteht da eigentlich auch schlicht kein gesellschaftlicher Handlungsbedarf. Wundersamerweise: derartige Listen gibt es für synthetische Pharmaprodukte zu hauf... und nicht selten dauert es Jahre, bis etwas geschieht.