Reform der Reform der...
Geschrieben von Jürgen Scheffler   
Samstag, 23. September 2006

Berlin. Die Spitzen von SPD und CDU mühen sich redlich, die schwere Belastungsprobe unter der Decke zu halten, von der die große Koalition gegenwärtig gebeutelt wird. Auslöser: Das in Dauerreformation befindliche Gesundheitswesen. Nachdem Kanzlerin Merkel und ihre CDU sich von dem im Wahlkampf 05 ebenso stark beworbenen wie zweifelhaften Konzept Kopfpauschale verabschiedet hat (inzwischen wurde wohl doch mal ein wenig genauer nachgerechnet...) hob man nach schwierigen Koalitionsverhandlungen einen Kompromiss aus der Taufe: den Gesundheitsfond. Entfallen sollten die unterschiedlichen Beitragssätze der Krankenkassen, die manch Neoliberaler gern mit Wettbewerb verwechselt, stattdessen gibt es einen bundeseinheitlichen Sockelbeitragssatz, auf den eine klamme Krankenkasse noch einen Zusatzbeitrag von bis zu 1% des Bruttoeinkommens draufsatteln können soll. An dieser 1%-Begrenzung entzündet sich nun offiziell die bisher schwerste Belastungsprobe für die große Koalition, angestoßen durch eine Art Ministerpräsidentenrevolte aus den Unionsländern gegen ihre Kanzlerin. Grund genug für CogitoSum, mal einen näheren Blick auf diese verwunderlichen Vorgänge um das Dauersorgenkind unseres Sozialwesens zu werfen, denn es steckt mehr dahinter, als es scheint.

Unser Gesundheitswesen


Vor etlichen Jahren war das deutsche Gesundheitswesen noch Vorzeigeinstitution unseres Sozialstaats. Ein volksweite Versorgung auf hohem Niveau, welche im Vergleich zu oft mehr privat organisierten Lösungen anderer Länder sogar recht kosteneffektiv funktionierte. Und dies - muss man aus heutiger Sicht sagen - trotz einiger stuktureller Tretminen, die fester Systembestandteil sind.


Dies wäre vielleicht heute noch so, wären da nicht gewisse Gesetzmäßigkeiten vorgeblich freier Märkte. Diese nämlich brachten schon in vielen anderen Ländern das gesetzliche Gesundheitswesen zu Fall. Die Ursache hierfür hat eben nicht mit wirklich freiem Markt, sondern vielmehr mit seinem Gegenteil zu tun. Je mehr der Konzentrationsprozess auf der Seite der Leistungsanbieter fortschreitet, um so mehr erhalten diese die Möglichkeit, die Preise ihres Leistungsangebots willkürlich festzulegen. Da der Markt in einem staatlichen Gesundheitswesen geregelt ist, muss sich der Anbieter keine Sorgen um den Absatz seiner Leistung machen - dieser ist, und das nahezu unabhängig vom Preis, quasi garantiert.


Die Folge - in diesem staatlichen Biotop gedeihen vor allem überhöhte Preise prächtig - wie in Deutschland z.B. von Arzneimitteln her bestens bekannt. Aber auch andere Leistungen - z.B. Arzt-Leistungen wurden durch Verbände wie die kassenärztlichen Vereinigungen etc. über monopolartige Strukturen abgesetzt. Abnehmer solcher Leistungen sind die Krankenkassen, die hierzulande in Selbstverwaltung an der Preisbildung im Gesundheitswesen mitwirken.


Die Kassen ziehen die Beiträge ihrer Mitglieder selbst ein und handeln (böse Zungen sagen: kungeln) mit den Anbietern Leistungspreise aus, zu denen ihre Kundschaft dann ihre Gesundheit wiederherstellen bzw. erhalten kann. In Deutschland ist man als Arbeitnehmer Zwangsmitglied einer gesetzlichen Krankenkasse und bekommt zwischen etwa 12 bis 15% von seinem Bruttoverdienst abgezogen. Arbeitgeber hierzulande sind verpflichtet, noch einmal fast das Gleiche dazu zu legen. Aus diesen Einnahmen sind dann die anfallenden Gesundheitskosten zu bestreiten, sowie einige gesetzliche Auflagen, wie z.B. die der kostenfreien Familienmitversicherung, die ehemals beitragsfreie Krankenversorgung von Rentnern etc. zu erfüllen.


Gleich mehrere tretminenartige Konstrukte verbergen sich hinter diesen auf den ersten Blick nicht erkennbar unvernünftigen Rahmenbedingungen für unser Gesundheitswesen. Zwei davon liegen in der Beitragserhebung: Beitragsbemessungsgrenze und Versicherungspflichtgrenze. Die Beitragsbemessungsgrenze für die Krankenkasse wird jährlich neu berechnet und liegt aktuell bei 3.562,50 € im Monat. Sie bedeutet, dass ein Arbeitnehmer (und entsprechend auch der Arbeitgeber) nur bis zu dieser Höchstgrenze Beiträge abführen. Der darüber hinausgehende Betrag des Einkommens bleibt beitragsfrei. Verdient ein Arbeitnehmer gar mehr als aktuell 3.937,50 € im Monat, ist er von der gesetzlichen Versicherungspflicht ausgenommen und kann sich ganz bei einer privaten Krankenkasse versichern, weil er die Versicherungspflichtgrenze überschritten hat.


Über viele Jahrzehnte funktionierte dieses komplex aus tarierte System gut. Die selbst verwalteten Krankenkassen nahmen quasi "nebenbei" wichtige soziale Funktionen wahr - Frauen und Kinder gesetzlich Versicherter waren ohne einen Cent Mehrbeitrag ebenso mitversichert wie Rentner. Menschen, die wegen geringer Einkommen nur Mindestbeiträge zahlten, wurden durch jene die mehr zahlen konnten, "mitfinanziert", weil ihnen trotz geringer Beiträge das gleiche Leistungsangebot offen stand. Ein hoher Beschäftigungsgrad und eine fortgesetzt gute Wirtschaftslage schufen einen Gesundheitsmarkt von gigantischen Ausmaßen, mit über 4 Millionen Beschäftigten und einem Volumen weit jenseits der 200 Mrd €. Mancher mag sich noch an die früher einmal üppige Förderung von vorbeugenden Gesundheitsmaßnahmen wie Kuren und Vorsorgeuntersuchungen etc. erinnern, die dieses System phasenweise sogar hergab.

Was lief falsch?


Mit Anfang der 80er Jahr veränderte sich trotz weiter guter Wirtschaftslage der Arbeitsmarkt. Ziemlich rapide begannen die Arbeitslosenzahlen im damaligen Westen zu klettern und ließen bereits 1983 den Höchststand aus dem Jahre 1950 weit hinter sich. Die Wiedervereinigung sorgte für eine kurze Verschnaufpause aus westlicher Sicht - doch dann bescherte der hinzugekommen Osten mit seiner im Ergebnis mehr ruinierten als zu "blühenden Landschaften" umgebauten Wirtschaft einen weiteren kontinuierlichen Anstieg.


Eingedenk der zuvor beschriebenen Finanzierung unseres Gesundheitswesens ist unmittelbar klar, dass dieses dabei unter finanziellen Druck geraten muss. Wer nun erwartet hätte, dass sich eine nationale Kraftanstrengung formiert, all das wieder ins Lot zu bringen, wurde bitter enttäuscht - vor allem von der Politik. Diese nämlich schafft es nun schon mehr als 20 Jahre, die Öffentlichkeit über den wahren Zustand unserer Sozialsysteme im Unklaren zu halten.


So unterschiedlich die Motive dafür sein mögen - z.B. zum Ende der Ära Kohl stand sicher im Vordergrund, das völlige Misslingen der wirtschaftlichen Wiedervereinigung und dessen Auswirkungen zu verbergen, so glich sich die von der Politik jeweils daraus gezogene Konsequenz: nämlich Nichtstun.


Doch nicht nur die Politik zeigte sich unwillig, einen echten nationalen Kraftakt zur Rettung unseres Sozialwesens in Gang zu setzen. Viel heftiger noch machte sich der Wandel auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar, der den arbeitgebenden Unternehmen einen satten Zuwachs an Macht und Einfluss bescherte. Denn - der Forderung der Politik nach wieder mehr Arbeitsplätzen setzte man vor allem politische Forderungen zugunsten der Arbeitgeberseite entgegen. Diese sind in der Tat besonders beim Gesundheitssystem schwer in die Pflicht genommen. Nicht nur zahlen sie paritätisch Beitrage, sie müssen gesetzlicherseits auch für die ersten sechs Krankheitswochen eines Arbeitnehmers aus eigenen Mitteln aufkommen. Klar, dass die Großindustrie das ganze System seit jeher lieber von hinten sähe...


Mit dem ersten Entgegenkommen der Politik setzte die Erosion unseres Gesundheitswesens ein - die Lohnfortzahlung für krank gewordene Arbeitnehmer wurde begrenzt, es gab Karenztage u.v.m. Was hingegen ausblieb, waren die der Politik zugesagten Arbeitsplätze - statt dessen wurde durch regelrechte "Frühverrentungsorgien" ebenso wirkungslose wie folgenschwere Kosmetik zur offiziellen Politik geadelt. Parallel rollte eine epochale Kampagne an, deren alleiniges Ziel es ist, das Gesundheitswesen selbst als zu wenig effektiv und leistungsfähig zu diffamieren. Ein Kernträger dieser Kampagne ist bis heute die arbeitgebernahe FDP. Diese hält zwar zu jeder Frage, wieso ein privates Gesundheitswesen besser sein soll, stets eine thinktank-optimierte Antwort bereit, nicht aber zu der Frage, was ihre "Modernisierungs"-Vorstellungen mit den über 4 Mio ordentlichen Arbeitsplätzen in diesem Bereich wohl anstellen würden.


Neben der durch Verstrickung weitgehend neutralisierten Politik war da noch eine andere einflussreiche Gegenkraft zur immer mächtiger gewordenen Arbeitgeberseite: die Gewerkschaften. Auch diesen aber ging das Sozialwesen recht weit am verlängerten Rückgrat vorbei - denn angesichts weglaufender Mitglieder glaubten sie, sich vor allem über Einkommenszuwächse bei den arbeitenden Menschen empfehlen zu müssen. An einem Anstieg von Lohnnebenkosten war ihnen in seltener Einmütigkeit mit den Arbeitgebern keinesfalls gelegen. Vielmehr sah man sich genötigt, sich besonders für mittlere und obere Lohngruppen so verdient wie möglich zu machen - denn hier schlummerte das noch nicht erschlossene Potential. Also auch hier Fehlanzeige - man igelte sich auf die verbissene Verteidigung des Status Quo ein.


Hinzu gesellte sich noch eine generell zunehmende Professionalität der Anbieter-Kartelle im Gesundheitswesen, immer größere Scheiben von dem riesigen Kuchen für sich abzuschneiden. Bei Antritt der ersten Regierung Schröder stand das System somit am Rande des Kollaps. Die nach Ansicht Schröders wohl zu behäbig und vor allem nicht publikumswirksam genug agierende grüne Gesundheitsministerin Andrea Fischer wurde bei erstbester Gelegenheit durch ein SPD-Schwergewicht aus dem Seeheimer Kreis ausgetauscht - Ulla Schmidt. Und diese hob eine "Jahrhundertreform" aus der Taufe, die sich gewaschen haben sollte. Ohne den strukturellen Grundproblemen des Systems auch nur im Geringsten an die Wurzel zu gehen, hielten epochale Änderungen Einzug: die selbst verwalteten Krankenkassen sollten sich nun auf einmal "Konkurrenz" machen - wie derartiges in einem solchen System überhaupt funktionieren kann, bleibt bis heute das Geheimnis derjenigen die diesen Unsinn verbrochen haben. Eines aber funktionierte natürlich bestens. Auf breiter Front wurden nunmehr die gesetzlich Zwangsversicherten zur Sanierung herangezogen. Leistungskürzungen, Praxisgebühr und Zuzahlungen wurden eingeführt, Rentner zu - wie immer anfangs niedrigen - Beiträgen verdonnert. Diesen tiefen Einschnitt rechtfertigte man seinerzeit damit, dass hierdurch ein großes Stück Zukunftsfestigkeit gewonnen würde - was sich leider mal wieder eine der ganz großen, man ist gezwungen zu sagen, Lügen in der Politik heraus stellen sollte und den "blühenden Landschaften" Kohls da nicht im Geringsten nachsteht. Zum Dank aber haben wir diese Ministerin heute noch.


Man ersann eine Reform, die vor allem den Verbänden und Verbändchen im Gesundheitswesen noch mehr Gestaltungsraum für ihre dem System nicht unbedingt immer zuträglichen Aktivitäten schuf - epochal war sonst daran noch bestenfalls das Ausmaß des Bürokratiemolochs, der allein durch seine Arbeitsbelastung die auch nicht ohnmächtige Ärzteschaft schon in Schach halten würde. Aber wir erinnern uns auch alle an die skandalösen Steigerungen der Jahresgehälter bei Krankenkassen und Verbandsfürsten im Gefolge dieser Jahrhundert-Reform. Die wahren Strukturprobleme hingegen tastete man wohlweislich nicht an - schließlich war und ist wohl noch die große Marschrichtung, um die Wähler in der gesellschaftlichen Mitte zu buhlen. Vor allem diese hätten neben der inzwischen heiligen Kuh der Gesellschaft, nämlich den Vermögenden, für ein wirklich reformiertes Gesundheitssystem tiefer in ihre Taschen greifen müssen. Solches scheint in der zeitgenössischen Politik inzwischen wohl als eine Art Sakrileg zu gelten - und so bedient man sich viel lieber bei den Armen, Arbeitslosen und Kleinrentnern - schließlich machen die bei weitem nicht so viel Ärger.


Gesundsheitsreform heute


Dass die vorangegangenen Reformen nicht fruchten können, war eigentlich von vornherein klar - entsetzlich ist aus heutiger Sicht allein das Ausmaß, in dem die den Armen und Zwangsversicherten zugemuteten Mehrleistungen und Leistungsverzichte vom "System" völlig wirkungslos absorbiert wurden und schon wieder prescht das System auf erhebliche Milliarden-Defizite zu.


Dass dies vor allem Politikern der SPD die Zornesröte ins Gesicht treiben muss, ist klar und aus dieser Perspektive ist wohl auch der gegenwärtige Reformvorschlag zu verstehen. Diesmal ließ die Politik sich nicht ganz den Schneid abkaufen - auch wenn der Vorschlag zunächst harmlos wirkt. Es soll ein bundesweiter einheitlicher Fond her, zu dem die Beitragsvereinnahmung verlagert werden soll und aus dem, aufgepeppt durch Steuermittel, dann die Kassen ihre Mittel erhalten. Nur noch in sehr begrenztem Rahmen dürfen diese, und auch nur bei entsprechender Lage, Zusatzbeiträge bei den Beitragspflichtigen abkassieren.


Ziel dieses Vorschlags scheint im Kern, die Staatsmacht erst einmal überhaupt wieder in die Ausgangslage zu bringen, signifikanten Einfluss auf das System nehmen zu können. Es hatte den Autor schon überrascht, dass die große Koalition sich im Juli 2006 auf einen solchen Vorschlag verständigen konnte. Und wieder waren es bestimmte Professoren, diesmal der schon häufiger verhängnisvoll tätig gewordene Prof. Bert Rürup, die an diesem Plan sogleich etwas zum Herumnörgeln fanden.


Seine Alarmrufe indes blieben, wie wir aktuell sehen, nicht ungehört. Der heilsame Wettbewerb unter den Krankenkassen, der sich scheinbar, wenn überhaupt auf irgendetwas, dann bestenfalls segensreich auf die Einkünfte der Krankenkassenbosse auswirkte, sei ob des bösen Plans kaum eingeführt nunmehr schon wieder in Gefahr. Den offenbar recht gut ausgetretenen Pfaden realen Machtflusses in unserer heutigen Gesellschaft folgend kam es so wohl, zwar mit Verspätung aber dafür umso nachhaltiger, zur aktuellen Revolte der Ministerpräsidenten.


Man hatte Merkel schon bei Amtsantritt prophezeit, dass genau hierin eine der größten Herausforderungen an ihre Kanzlerschaft liegen würde. Allein die Frage, wieso sich Ministerpräsidenten so sehr in dieser Frage engagieren, bedarf noch näherer Betrachtung. Die Schmidt-Reform gab den Krankenkassen mehr freie Hand in ihrer Beitragsgestaltung. Versicherungsbeiträge errechnen sich größtenteils aus den Verhältnissen zwischen Beitragsaufkommen und Risikoentwicklung. Nahe liegend, dass sich da in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit sehr viel ungünstigere Relationen ergeben als in den Musterländles - erst recht bei den gesetzlich zur Aufnahme verpflichteten AOK's. Aufgabe des gesetzlich vorgesehenen Risiko-Struktur-Ausgleichs zwischen den Krankenkassen war es immer schon, solche Unterschiede aus zu gleichen. In einer Art Dauerverhandlung wird so fortwährend Geld zwischen unseren über 200 Krankenkassen hin- und her verschoben, was schon in der Vergangenheit Beschwer für manch Landesfürsten eines starken Landes war. Dies würde der Gesundheitsfond nun grundlegend ändern. Es griffe eine ebenso einfache wie knallharte bundesweite Arithmetik mit nur noch wenig Einfluss für Landesfürsten und andere Beteiligte - und selbst der Notausgang, der sogenannte Zusatzbeitrag, ist mit der im Moment noch vorgesehenen 1%-Grenze praktisch zugemauert.


Die Befürchtung mancher Länder scheint, dass ihre Arbeitnehmer nun mehr als bisher zum bundesweiten Struktur-Ausgleich herangezogen werden könnten, was gesamtgesellchaftlich nur sinnvoll sein kann. Dies hätte zur Folge, dass mehr als bisher auch in wirtschaftlich besser gestellten Ländern die Beitragssätze der Krankenversicherung unter Druck geraten - und damit natürlich auch die Lohnnebenkosten, womit man, nicht ganz zu Unrecht, ein Risiko für den regionalen Arbeitsmarkt assoziiert.


Mehr als der konkrete Gegenstand jedoch, belegen solche Haltungen, wie weit wir es mit unserem Gemeinwesen schon gebracht haben. Da möchte z.B. ein Land wie Bayern gesundheitspolitisch am liebsten so tun, als gehöre es schon gar nicht mehr zur Bundesrepublik, obwohl seine Wirtschaft mehr als die anderer Bundesländer von Bundesaufträgen profitiert. Möglichst viel nehmen und möglichst wenig geben scheint die überall herrschende Devise - dass so "kein Staat zu machen ist", scheint weder Bayern noch andere wenig kümmern.


Man kann nur hoffen, dass die Bundespolitik solche Ansinnen abblockt - und endlich mal ihre Primat voll ausspielt. Selten wurde die Notwendigkeit zu einer Förderalismus-Reform so deutlich wie in diesem Fall. Es kann und darf nicht angehen, dass nach der EU nun auch noch in Bundesländern unterschiedliche Verhältnisse in Grundfragen sozialer Sicherung Einzug halten - die Folgen dessen kennen wir bereits: ein ruinöser Wettbewerb der Sozialsysteme, wo immer nur zwei die Dummen bleiben - nämlich das Zwangsmitglied und der auf Leistungen des Systems existenziell angewiesene arme Mensch.


Der gegenwärtige Reformentwurf ist sicher nicht der ganz große Wurf - aber er enthält zumindest ein paar wichtige Ansätze in die richtige und wohl auch einzig mögliche Richtung. Wer ein staatliches Gesundheitswesen in Deutschland erhalten möchte - was alle ausser der FDP vorgeben zu wollen - der muss sich auch in die Lasten eines solchen Systems fügen. Besser, als den richtigen Weg zum wiederholten Male zu verwässern und damit zu einer erneuten Lachnummer á la Schmidt-Reform verkommen zu lassen, wäre es da wohl, gleich noch ein paar Schritte mehr in die richtige Richtung zu tun.

Ungedeckte Zukunftschecks


Viele Mitglieder unserer Gesellschaft unterliegen der Illusion, allmonatlich mit ihrer Gehaltsabrechnung Nachhilfe-Unterricht in Fragen des Sozialwesens zu erhalten. Besonders privat versicherte Leistungsfähige und Erfolgreiche um die 30 können sich da nämlich selbst auf die Schulter klopfen - wie klug und eigeninitiativ sie doch sind, weil sie im Vergleich zum gesetzlich Versicherten eine beträchtliche Summe sparen und dazu sich dazu noch einer wesentlich besseren Versorgung sicher wissen. Der Gutverdiener in der gesetzlichen Kasse scheint der Dumme...


Das als bürokratisch und ineffizient gescholtene Staatssystem aber wickelt in Wahrheit ein ganz anderes gesellschaftliches Aufgabenspektrum ab, als eine private Krankenkasse. Dies erfährt unser Leistungsträger schon dann, wenn er vielleicht noch seinen Ehepartner absichern möchte, der sich womöglich um die Erziehung gleich mehrerer gesellschaftlich so heiß erwünschter Kinder kümmert. Dann nämlich ist der Kostenvorteil der Privat-Versicherung schneller futsch als man gucken kann. Vergleichbares gilt für das Alter - einen nicht unerheblichen Teil seiner Altersbezüge kann unser Leistungsträger dann nämlich heute schon für die Aufrechterhaltung seiner privaten Krankenversicherung einplanen, zumal gesetzliche Kassen ihm zu Recht eine Rückkehr in die gesetzliche Versicherung kurz vor oder nach Beginn seines Rentnerdaseins verwehren.


Angesichts des Ganzen erhebt sich die Frage nach dem Sinn einer privaten Krankenvollversicherung überhaupt. Deren Markt nämlich macht kaum 10% des gesamten Gesundheitsmarkts aus, dessen ungeachtet aber ziehen die Privaten sich fortwährend die "besten" Risiken an Land, während das Staatssystem für alle möglichen Problemfälle grade zu stehen hat. Wirkungsvoller kann man ein staatliches System nicht aushöhlen. Dabei sollte sich unsere Bevölkerung sowie die meinungsmachenden Medien genau überlegen was sie da wollen oder tun. Wenn es ihnen wichtiger ist, künftig Konzerngewinne und schwachsinnige Werbung sowie spitzfindige Vertragsgestaltung und Kampfrabatte zu finanzieren, als Versicherungsschutz für Ehefrauen, Kinder, Arme und Alte, dann muss sie die Private Lösung wählen. Ein Sachverhalt übrigens, der sich übrigens fast ohne Abstriche so auch auf die private Altersvorsorge übertragen lässt.


Die heutigen Prediger der Selbstverantwortung "vergessen" oder sagen wir genauer, unterschlagen nämlich bewusst die Archilles-Ferse der von ihnen so offensiv propagierten privaten Absicherung. Alles und jedes dort ist an die Entwicklung der Kapitalmärkte gebunden. Sollten sich hier einmal Verwerfungen ergeben, wozu die maroden Verhältnisse allein in den USA schon seit einiger Zeit genügend Anlass geben, wird aus dem ehedem glänzenden Privatangebot schlagartig kleinbedrucktes Papier, dass sich bestenfalls noch für die Klorollenhalterung eignet. Und von sowas wird man weder satt noch gesund, noch schafft dies Arbeitsplätze.

Fazit


Es ist höchste Zeit, dass unsere Politik die Herausforderungen der Zeit nicht nur begreift, sondern in ihrem Handeln berücksichtigt. Wenn aufgrund der Arbeitsmarktentwicklung die soziale Sicherung so nicht aufrecht zu erhalten ist, wie sie mal war, ist vor allem dafür zu sorgen, dass es zu einer nationalen Kraftanstrengung aller zu ihrer Erhaltung kommt, bevor man ein so hohes Gut der modernen Gesellschaft auf dem Altar privater und stets nur kurzfristiger Kapitalinteressen opfert.


An Möglichkeiten, das Richtige zu tun, fehlt es indes fürwahr nicht. Warum demjenigen, der sehr gut verdient, derzeit prozentual weniger zur Erfüllung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben im Gesundheitswesen abverlangt wird bzw. er gar ganz von seiner Mitwirkung entbunden ist, während derjenige am oder unter dem Einkommensdurchschnitt kraft Gesetzes seinen vollen Beitrag leisten muss, bleibt Geheimnis der Väter dieses Systems. Dieses System hat sonst aber dennoch einige in gesellschaftlichem Sinne begrüßenswerte Merkmale und so wäre es nur ein kleine Privilegchen, die es hier endlich mal zu kippen gilt.


Warum wir über 200 Krankenkassen und unzähliger weiterer Verbände bedürfen, um die gesamtgesellschaftliche Aufgabe im Gesundheitswesen zu schultern ist die nächste Frage, der sich zuzuwenden wäre. Wir leben im 21. Jahrhundert und verfügen über eine höchst entwickelte Informationstechnik, um diese Aufgabe bundesweit einheitlich und verwaltungskostenarm über die Bühne zu kriegen. Was unser Land da gewiss am allerwenigsten braucht, sind kleine, risikobegrenzte und nebulös selbst verwaltete Lokal-Kassen und -Verbände, wenn Gesetz und Verfassung hier noch einen Sinn haben sollen. Das Gesundheitswesen insgesamt gehört unter parlamentarische Kontrolle und Führung. Dies vermag zwar nicht unbedingt Alles von vornherein zu bessern, aber es erlaubte einer Regierung, hier wieder wirklich gestaltend einzugreifen. Schließlich trägt die politische Führung auch die Verantwortung, spätestens bei der nächsten Wahl - etwas womit die seilschaftsmäßig besetzten Verbände und Verbändchen derzeit in keiner Weise zu rechnen haben, wenn man die ebenso unnütze wie teure Farce der Sozialwahlen mal vernachlässigt.


Der aktuellen Ministerpräsidenten-Revolte jedenfalls wäre angesichts objektiv gegebener Nicht-Zuständigkeit eine schallende Absage zu erteilen. Deren Drohung, die entsprechenden Gesetzte im Bundesrat notfalls zu Fall zu bringen, ist allein mit einer radikalen Förderalismus-Reform zu begegnen. Wohl nicht aus Zufall tut sich Peter Müller, Ministerpräsident eines Mini-Bundeslandes, in dem ganzen Drama besonders lautstark hervor und es stellt sich die Frage, ob hier in Wahrheit vielleicht nicht ein Bruch des Bundesprimats in der Politik mehr im Vordergrund steht, als gemeinhin zugegeben. Dieser Konflikt nämlich war bei einer derart starken großen Koalition, wie wir sie derzeit haben, vorherzusehen.


Dabei lockt für den Fall einer vernünftigen Lösung der Probleme im Gesundheitswesen fürwahr reiche Belohnung. Vorhersehbar wäre ein Sinken der Lohnnebenkosten zu Lasten der heute Bessergestellten in der Gesellschaft, was dem Arbeitsmarkt nur zuträglich sein kann und sicherlich keinen der Belasteten in den Ruin stoßen würde. Mehr noch als dies sollte man die psychologische Auswirkung auf den Souverän unseres Landes, nämlich das Volk, insgesamt nicht unterschätzen - hier wäre ein gutes Stück Zukunftsperspektive und politische Glaubwürdigkeit zurück zu gewinnen. Und getan werden muss ob der Untragbarkeit des gegenwärtigen Systems auf jeden Fall etwas, ob es nun dem einen oder anderen Ministerpräsidenten in den Kram passt oder nicht.

CogitoSum - Beitragskritik:
Politik - Sozialwesen:

 

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