Unterschicht-Debatte |
Geschrieben von Jürgen Scheffler | |
Dienstag, 17. Oktober 2006 | |
Deutschland. Eine wahrhaft gespenstische Debatte rauscht durch unseren Medienwald: Die Unterschicht-Debatte. Los getreten wurde sie durch eine dem SPD-Chef Kurt Beck nachgesagte Formulierung, der jene 6,5 Mio Menschen, die nach einer Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Armut leben, pragmatisch als neue Unterschicht betitelt haben soll. Seitdem hagelt es von allen Seiten - nicht zuletzt von Vizekanzler Müntefering - Schelte für diese, eigentlich lange schon überfällige Form von Realismus. Der linke Flügel der SPD indes legte gleich noch eines drauf: die Hartz-Gesetze trügen erhebliche Mitverantwortung an Verfestigung und weiterem Wachstum dieser Bevölkerungsschicht, lautet deren Vorwurf an den Gazprom-Flügel der eigenen Partei. CDU-General Pofalla, immer für geistige Purzelbäume gut, entdeckt die Diskussion sogleich als Munitionsdepot für Schüsse in Richtung jener Parteien, denen entgegen der eigenen in der öffentlichen Zustimmung Aufwind zuteil wird. Rot-Grün sei verantwortlich für die Misere - und nicht etwa die Union, der bis heute die Einschnitte für arme Menschen nicht weit genug gehen können. Kreuz und Quer durch Parteien und Verbände verlaufen Diskussionen, die der vernünftige Mensch eher in Schilda als im realen Deutschland des Jahres 2006 vermuten würde. Lächerlicherweise wird über die Benennung des Phänomens gestritten, statt über seine Ursachen. Lächerlich bis boshaft die gekünstelte Sorge eines Volker Kauder (CDU), diese Bezeichnung würde zu sehr stigmatisieren. Dabei sind Langzeitarbeitslose in unserer Gesellschaft realiter längst stigmatisiert - unabhängig von all dem Gebrabbel unter unseren unverdient hoch bezahlten Politikern, Professoren, Experten und Journalisten. Ja - wir haben sie doch längst - die Unterschicht in Deutschland. Schon jetzt zahlreicher als 6,5 Mio und schlimmer noch: die schon vorgenommenen Einschnitte in den Sozialstaat lassen keine andere Prognose übrig, als die eines rapiden Wachstums dieser Schicht. Entstanden durch den sich seit Beginn der 90er manifestierenden Rückzug der Konzern-Wirtschaft aus ihrer kollektiven Verantwortung und durch die falsche Politik, die den Konzernen dabei nicht nur nicht im Wege stand sondern ihnen dieses sogar noch mit Steuergeschenken belohnte. Wer - wie die Union - Deregulierung, Arbeitszeitverlängerung und Aufweichung des Kündigungsschutzes fordert, will diesen Prozess offenbar noch weiter beschleunigen. Die Feststellung, Deutschland falle in den Leistungen seines unverändert immens teuren Sozialsystems in atemberaubendem Tempo immer weiter zurück, stellt zumindest die richtige Diagnose für eine grottenfalsche Politik dar.
Und so wären die obwaltenden Gruppen in FDP, Union, Grüne, SPD sowie Franz Müntefering besser beraten, sich in betroffenes Schweigen zu hüllen. "Nur wer arbeitet soll auch essen" lautet so ein denkwürdiger Ausspruch von Letzterem. Eine für einen SPD-Politiker schier unglaubliche Entgleisung. "Finde endlich auf den Boden der Tatsachen zurück, Franz" mag man da dem Nachlassverwalter von Gazprom-Schröder fast schon helfend zurufen wollen. Essen ist keine Willensentscheidung, sondern ein unverhandelbares und durch Menschenrecht verbrieftes Grundbedürfnis eines jeden Menschen - auch des Arbeitslosen, Armen, Alten und Kranken und aller anderen, für die unsere schicke Zweidrittelgesellschaft keine Verwendung mehr zu haben scheint. Eine Gesellschaft, die munter und willkürlich Teile von sich selber aus grenzt, entzieht sich ihre Kraft und Legitimierung - und damit auch diejenige für ihr Recht, für ihre Polit- und Staatsapparate und für jedwede ihrer schicken Eliten. Dies ist der fürwahr ebenso besorgniserregende wie beschämende Befund unserer gegenwärtigen Realität. Neoliberale Denkakrobaten mögen entgegnen - dies sei übertrieben, so schlimm sei doch alles nicht hierzulande. Doch eines unterschlagen sie dabei: nicht der Vergleich mit Entwicklungsländern und Bananenrepubliken ist der für uns maßgebende, sondern der mit jenem gesellschaftlichen Niveau welches schon mal erreicht wurde. Nur dieses - und nicht etwa das der US-Amerikanischen Nicht-Gesellschaft ist es, welches den Völkern der Welt überhaupt noch Hoffnung auf eine bessere Zukunft geben kann. Wenn uns hier - in einer der reichsten Nationen der Welt - nicht einmal eine ordentliche Gesellschaftsentwicklung mehr gelingen will, schwindet nahezu jeder Raum für Zukunftsprognosen jenseits von Gotham City. Die immer noch überaus eifrigen Verfechter neoliberalen Quatsches sollten sich sehr genau überlegen, ob ein paar Millionen Euro Renditeplus hin oder her das Experiment eines Wiederauflebens des Marxismus oder geistiger Perversionen wie der Braunen Ursuppe wirklich wert sind. Ins Rollen gekommen ist der Zug längst - und der Zeitpunkt, ab dem er dann nicht auf zu halten sein wird, rückt mit jedem Tag näher, der mit verantwortungsscheuem Herumlamentieren vertan wird. CogitoSum
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