Die Tränen der Dänen
Geschrieben von Jürgen Scheffler   
Dienstag, 7. November 2006

Beobachter politischer Diskussionen mögen sich zuweilen schon an die biblisch-babylonische Sprachverwirrung erinnert fühlen - nahezu Kult: ARD Sonntags 21:45 Sabine Christiansen. Dieses mal (5.11.06) dabei: Gerd Schröder (Gazprom-Manager & Buchautor u.v.m.), Heiner Geisler (Vorzeige-Renegat der CDU), Ottmar Schreiner (Ewig-Antipode zu Gerd) und Max Schön! Nein - nicht Sohn oder Enkel eines Ex-Bundestrainers... Sie kennen Max Schön nicht? Dem kann abgeholfen werden: Dieser smarte Unternehmer ist Gründungsmitglied des Fördervereins für... na was wohl? Denken Sie doch mal kurz nach - bei Christiansen? Richtig: die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (ISMW). Es entsponn sich aufgrund des engagierten Auftritts seitens Schreiner eine ausnahmsweise stellenweise heftige Diskussion (die Sabine dann gewohnt professionell auf das Gebiet Außenpolitik lenkte, als es für Gerd ohne Pferd begann, richtig peinlich zu werden). Von vielen vielleicht nicht beobachtet ergab sich zweierlei - erstens eine unübersehbare Werbung der ISMW um Gerd seitens Sabine und dem Max - und zweitens ein verbaler Schlagabtausch zwischen Schreiner und Max Schön - da nämlich ging es um Dänemark und sein erfolgreiches Arbeitsmarktmodell. Hierzu meinte der Herr Schön anmerken zu müssen - in Dänemark gäbe es Hartz längst. In gewisser Hinsicht hat er damit sogar recht - aber eben nur in gewisser. Dabei sollte Max Schön es sehr genau wissen, denn - er ist Mitinhaber einer nicht grade kleinen dänischen AG. Zu dieser Ehre - seit der er quasi Frühpensionär mit viel Zeit für die ISMW ist - kam er, weil der dänische Konzern sein geerbtes Familien-Unternehmen via Aktientausch übernahm. Die Verhältnisse dort sollten ihm also bis ins Details bekannt sein - und wir wollen seiner Hartz-Aussage das hinzufügen, was Max Schön nicht dazu sagte. Unseren Nachbarn - gemeint ist das kleine Volk der Dänen - mögen da schon mal vor Mitleid (..oder Lachen?) fast die Tränen in die Augen schießen - wenn sie zu uns herüber schauen. CogitoSum wird hierbei Aspekte hervorheben, die zwar regelmäßig völlig unter den Tisch fallen, die aber - betrachtet man Wirtschaftstheorien - eine außerordentliche Wirkungsreichweite haben. Die nähere Betrachtung gängiger Modelle und Theorien ergibt sowieso schnell, dass sie allesamt schon immer auf einem Auge blind sind: sie ignorieren den Aspekt Macht. Macht bedeutet in diesem Zusammenhang: so auf eine Entwicklung Einfluss nehmen zu können, dass die Entwicklung den eigenen Interessen "zuarbeitet". Hierzu an anderer Stelle demnächst mal mehr. Für diesen Moment nehmen wir die uns ständig vorgesetzten Paradigmen mal beim Worte. Wir bekommen da also eine schöne neue Arbeitswelt - in der Arbeitnehmer nach Art von Heuschreckenschwärmen immer dorthin wandern, wo gerade Kohle gemacht wird. Kündigungsschutz ist nicht mehr vorgesehen - die Eigen-Verantwortung des "befreiten" Arbeitnehmers ist, sich möglichst schnell eine neue Stelle zu suchen und sich nebenbei auch noch um seine Daseinsvorsorge selbst zu kümmern. Das Deutschland-AG-Szenario einer lebenslangen Beschäftigung beim gleichen Arbeitgeber und hinreichender kollektiver Absicherung hat ausgedient. Manche reden uns nun ein, hiermit zöge das "Modell" Dänemark am Horizont auf - sie wissen schon - das ist da, wo ja alles so wunderbar zu funktionieren scheint. Etwas was sich viele hierzulande glatt zu Weihnachten wünschen würden. So weit so gut - aber haben wir tatsächlich den dazu gehörigen Arbeitsmarkt und die sonstigen Randbedingungen? Machen wir uns einmal auf Spurensuche...

Trauriger und oft beklagter Befund: Kaum ein Arbeitsmarkt auf der Welt dürfte derart verkrustet sein, wie der unsrige hierzulande. Die gängige und uns allen unablässig in Hirn geblasene neoliberale Interpretation dieser Verkrustung mündet in einer Reihe von "Forderungen" von denen weit öfter behauptet als jemals auch nur ansatzweise bewiesen ist, dass sie - isoliert angewendet - irgendetwas zum Besseren wenden könnten.

KÜNDIGUNGSSCHUTZ

"Dauerbrenner" - hierin soll angeblich das ultimative Heil liegen - denn schließlich gibt es den im ach so schönen Dänemark nicht. Doch Achtung - man kann eindeutig feststellen, dass er auch hierzulande für Neueinstellungen praktisch nicht mehr existent ist. Leih- und Zeitarbeit, nahezu beliebige Möglichkeiten befristeter Vertragsgestaltung, Sonderregelung für Ältere, Minijobs ohne jegliche Form von Absicherung haben den hiesigen Kündigungsschutz längst derart deformiert, dass im Deutschland des Jahres 2006 vermutlich nicht auch nur eine EINZIGE Neueinstellung an diesem Thema überhaupt noch scheitern konnte. Wer immer noch behauptet, Kündigungsschutz behindere etwas in diesem Land, kann somit eigentlich nur noch bereits bestehende Arbeitsverträge meinen - hierüber sollten insbesondere heute (noch) gut gestellte FDP- und CDU-Wähler wirklich mal etwas näher nachdenken. Wie man bestehende Arbeitsverträge entsorgt, wird uns über Verkaufts- und Ausgründungsstrategien ja ständig vorgemacht. Zudem  - Kündigungsschutz ist für Menschen ohne Arbeit oder in prekärer Beschäftigung schon länger kein Bestandteil ihrer Erfahrungswelt mehr...


ARBEITSLOSENGELD und HARTZ

Momentan schwer in der Diskussion - angesichts der Rüttgers-Forderung. Doch Moment - zahlen denn nicht die Arbeitnehmer selbst für diese "Versicherung"? Mit dem derzeitigen Beitragsvolumen von 6,5% wäre auch ohne Zweifel mehr zu finanzieren, als die einheitlichen nur 12 Monate ALG1. Dieser Spielraum aber muss zwingend schrumpfen, wenn die Beiträge auf 4,3% gesenkt werden. ALG1 beträgt der absoluten Höhe nach nicht selten ein Vielfaches des ALG2 - d.h. hier reichen schon Nuancen von Arbeitsmarktschwankungen, um rasch Milliarden-Löcher in die Kassen reißen... HARTZ: nach dem Gequatsche von Prof. Unsinn ja angeblich bei weitem zu hoch! Unser Professor sollte uns erst einmal ein Jahr lang vormachen, wie er hierzulande von noch weniger leben will - bevor er weiter diesen Menschen verachtenden Unsinn verkündet. Was seine wahre Motivation für seine lächerliche "Ziehharmonika-Theorie" angeht, bleibt da nur noch die Wahl zwischen bösem Vorsatz und völligem Realitätsverlust. Nun sind WIR es mal, die in diesem Punkt das viel beschworene Modell "Dänemark" hervor kramen - dort nämlich beträgt die Leistung für Arbeitslose 90% des letzten Einkommens - die (noch) ohne Bedürftigkeitsprüfung(!) für derzeit bis zu 4 Jahren gezahlt werden. Wow! So etwas kann man Absicherung nennen. Die Dänen finden es halt offenbar wichtiger, einen Arbeitslosen schnell in einen Job zu bringen, statt ganze Horden von überteuren Beamten mit dem Bedürftigkeitsunsinn von ihren eigentlichen Aufgaben abzuhalten und an Unterschichten zu basteln. Nebenbei erklärt sich so bereits recht elegant, dass im Land der Dänen nicht jede Kündigung sogleich voll auf den Binnenmarkt durch schlägt. Bei uns aber bedeutet schon ALG1 nämlich nur noch 60-67%, was jeden Betroffenen zu sofortiger Einschränkung zwingt. Vom hier - erst nach Vorliegen einer behördlich geprüften Bedürftigkeit überhaupt - zu zahlenden ALG2 brauchen wir erst gar nicht zu reden - weniger geht eh kaum noch - der entsprechende Mensch ist als Marktteilnehmer fast vollständig marginalisiert.


HARTZ und DÄNEMARK

Wenn man das deutsche Hartz-System charakterisieren will, bietet sich folgendes Statement an: der Arbeitslose möge sich seinen Arbeitsplatz bitte selber schaffen (ein Ding der Unmöglichkeit). Denn man übt auf jeden Fall schon mal enormen Druck auf auf ihn - und das sogar auch, wenn gar keine Arbeitsplätze da sind. Wir Deutschen waren halt schon immer ein Tick pfiffiger als andere... Gerne aber wird dennoch hierzulande mit den angeblich so sehr zwingenderen Auflagen des dänischen Modells hausiert - doch Moment mal! All dies ist für Hartzlinge hier schon längst auch Realität und dazu in noch weit schlimmerer Ausprägung - Sanktionen wirken sich hier nämlich inzwischen direkt auf die tägliche Essensration des Betroffenen aus. Das deutsche Jobwunder indes gab es dennoch bis heute nicht. Wie auch - wenn Arbeitsplätze fehlen, dann fehlen sie halt. Selbst wenn man Arbeitslosen mit Erschießung droht - werden dadurch immer noch keine neuen Jobs entstehen (aber die Arbeitslosenzahlen würden mit der Zeit sicherlich sinken...) Was in Dänemark aber vollkommen anders ist, als hierzulande - ist die Organisation der staatlichen Arbeitsverwaltung. Skandinavisch tolerant und pragmatisch wird hier eben agiert statt lamentiert. Vor allem hat hier jeder Arbeitslose nach einer gewissen Frist Anspruch auf "Aktivierung" - will heißen - ihm steht entweder Qualifikation oder Job zu. Verantwortlich dafür: sein Betreuer bei der Arbeitsbehörde. Fördern nach dänischer Lesart ist kein vages und uneingelöstes Versprechen wie hier, sondern öffentliche Pflicht. Nicht vergessen - der betroffene Mensch wird bei 90% seines letzten Einkommens gefördert und nicht am Existenzminimum gefordert wie hierzulande. Er muss also weder umziehen noch sich sonst nennenswert einschränken, sondern kann sich ganz auf auf seine Jobsituation konzentrieren. Hierzu ein Zitat aus dem Land der Dänen: "...Man kann niemanden zu einer Arbeit schicken, die er nicht will, sagt etwa Kurt Kaldor, Vermittler beim Arbeitsamt in Kopenhagen. Das geht in der Theorie. Aber wenn ich das einem Unternehmen zumute, brauche ich denen nie wieder jemanden anzubieten..." Übertragen auf die hiesige behördliche Logik könnte man fast witzeln: Da sind unsere ja längst fein raus... Mal ehrlich: der Satz kommt einem hier inzwischen schon vor, wie von einem anderen Stern - oder? Wie einfach Vernunft doch sein kann, wenn man sie zulässt. Allerdings - auch in Dänemark wird gespart - und zwar dort, wo dies auf sinnvolle Weise auch möglich ist: 1.800 € nämlich ist die Höchstgrenze für das staatliche Arbeitslosengeld. Geradezu eine Art "Erscheinung des Leibhaftigen" dürfte dies in Augen mancher Besitzstandswahrer hierzulande sein. Kommunismus! Gleichmacherei! - Allerdings: es funktioniert! Zusammenfassung: die Dynamik auf dem dänischen Arbeitsmarkt ist groß. Ständig wechseln Menschen ihre Stellen und ganz sicher erholt sich der eine oder andere hier oder da mal etwas in der sozialen Hängematte. Dennoch sind verhängte Langzeit-Sanktionen höchst selten - eher schon Tages- und Wochenkürzungen braucht es dagegen schon häufiger mal, um den einen oder anderen Lauschöpper auf Trab zu bringen. Gegenüber Deutschland gibt es in Dänemark allerdings auch eine völlig andere und wesentlich offenere Gesellschaft - und nicht zuletzt dies macht das System als Ganzes grundlegend gerechter und der offensichtliche Erfolg dieses System ist nicht teilbar, sondern das Resultat eines in sich stimmigen Gesamtkonzepts zur entschlossenen Bekämpfung von Arbeitslosigkeit. Hartz ist auch ein Gesamtkonzept - nur fragt sich, welches Ziel hier verfolgt wurde - ganz offensichtlich jedenfalls nicht das gleiche wie in Dänemark. Typen wie Hundt oder Söder sollten also bitte mal ihr Hirn einschalten (wenn es denn was bringt...) bevor sie ihren Mund aufmachen und sich bei Dänemark doch stets nur jene Teile abschauen wollen, die ihnen in ihren Kram passen. Vor allem gibt es in Dänemark noch einen anderen nicht weniger wichtigen Unterschied zum hiesigen Arbeitsmarkt:


AUFWÄNDIGE BEWERBUNGSRITUALE

Bewerbungen gehen in Dänemark völlig unspektakulär über die Bühne. Unternehmen stehen in engem Kontakt mit den Arbeitsämtern - und betrachten diese als durchaus kompetente Partner, ihnen schnell eine gute Besetzungen für ihr fehlendes Personal zu vermitteln. Vieles geht dabei auf Zuruf oder mit einem kurzen Telefonat. Personalchefs in Deutschland 2006 hingegen scheinen ihre aufgestauten Herrgotts-Komplexe von vor 20 Jahren (...als man froh sein musste überhaupt einen Bewerber auf eine Stelle zu bekommen..) immer noch durch ausgiebigstes Zelebrieren längst überholter Bewerbungsrituale kompensieren zu müssen. Ja - wen haben wir denn da? Och nö - dieses Gesicht in unserem schönen Glas- und Marmor-Palast? Jemand über 40? Brüche in der Berufsvita? Schulden? Alleinerziehend? - Beiseite legen - sind ja genug andere da. So wird aus einer Stellenausschreibung für einen Büroboten schnell eine Diplomarbeit und man kann als Personalchef so wunderbar nachweisen, wie sehr wichtig man doch ist. Ehepartner werden hierzulande vermutlich um ein vielfaches unbedenklicher ausgewählt, als einem deutschen Personaler die Einstellung eines passenden Bewerbers für irgendeinen belanglosen Job möglich zu sein scheint. Leiharbeit gar entsorgt ihm diese Mühe ganz. Man ist hier nicht mehr verantwortlich dafür, dass der oder die richtige auf die richtige Stelle kommt - womit man jeder Möglichkeit, vielleicht doch mal einen Fehler zu begehen, ultimativ ausweicht. In vielen mittelständischen Unternehmen hat sich zudem längst Nepotismus (Vetternwirtschaft) breit gemacht - ganze Abteilungen und Bereiche in Unternehmen und Behörden sind von zumeist örtlichen Clans (nicht selten auch mit Migrations-Hintergrund) annektiert - Verwandte aller Grade arbeiten hier mehr oder weniger offen Hand in Hand. Nicht viel anders schaut es in Punkto Günstlingswirtschaft und Netzwerkerei aus. In solche Strukturen kann ein externer Bewerber praktisch kaum noch "einbrechen" - irgendein Haar in der Suppe wird man schon finden, um eine schicke Stelle freizuhalten: entweder für den Neffen, der in 6 Monaten seine Ausbildung abschließt - oder für den Burschenschaftskomillitonen, dessen Vertrag demnächst ausläuft. Und dann gibt es da noch jene nicht wenigen Stellenprofile - besonders von namhaften Firmen - die gleich derart übermenschliche Anforderungen stellen, dass man sich fragen muss, in welchem der noch ferneren Jahrhunderte ein Mensch sie jemals erfüllen können wird. Was derartiges soll, überlasse ich der Phantasie des Lesers - in der Statistik jedenfalls macht solches sich als ausgewiesene "offene Stelle" auf jeden Fall mal sehr gut. Und das bei lang anhaltendem Nutzen: es gibt viele derartige Stellenausschreibungen, die man seit nunmehr schon mehreren Jahren unverändert in diversen Jobbörsen bewundern kann. Dass Leistungshöhe und Leistungsqualität hierzulande sich inzwischen mehr oder weniger in freiem Fall befinden, sollte da eigentlich nicht mehr allzu sehr verwundern...


SOZIALSYSTEM und LOHNHÖHE

Die Arbeitskosten seien ja nun eindeutig zu hoch hierzulande - lautet das gebetsmühlenartig aus allen Kanäle schallende Lamento der Arbeitgeber. Klar - Exportweltmeister sind wir sicher nur aufgrund der netten Erscheinung des einen oder anderen Jungmanagers hierzulande. Genug des Sarkasmus - Jedem sollte klar ein, dass die viel gescholtenen Lohnnebenkosten einen erheblichen Anteil an den hohen Bruttolöhnen in Deutschland ausmachen. Wer hier kürzen will, muss aber auch gleich dabei sagen, wo man denn das damit dem Sozialsystem verloren gehende Geld bitteschön hernehmen will? Die Unternehmen wollen es keinesfalls bezahlen (so dient die ganze Kampagne auch eindeutig dem Gegenteil), die Reichen drohen sowieso schon - wie sich zeigt erfolgreich - mit Auswanderung und jene, die noch ordentlich arbeiten sind ohnehin schon bis zur Halskrause belastet. Und jetzt - tataaa! - kommt der große Trick des gewieften Zampanó: Kürzung der Sozialleistungen und Privatversicherung! Tolle Kiste diese neue Freiheit in Eigenverantwortung - im Klartext: diejenigen, die ohnehin schon den höchsten Anteil von ihrem Einkommen abführen müssen, sollen dann auch noch privat zusätzlich Prämien berappen - auf den Gesamtdurchschnitt gesehen nichts als ein weiterer und dazu noch besonders kräftiger Griff in die Taschen der Massen. In Wahrheit nämlich geschieht unter dem Strich etwas völlig Anderes: die Arbeitgeber stehlen sich auf leisen Sohlen aus der paritätischen Finanzierung des Sozialsystems - denn sie zahlen immer weniger Arbeitgeberanteile und müssen sich - anders als die Arbeitnehmer - nicht zusätzlich privat absichern. Überhaupt - die Sozialsysteme hierzulande waren schon immer eine denkwürdige Konstruktion - je mehr man verdient umso weniger zahlt man prozentual ein. Wer gar reich ist oder sehr viel verdient, trägt so praktisch kaum noch zum kollektiven System bei. Steuern in die Sozialaufgaben umzulenken ist hierzulande traditionell höchst unpopulär, weil wir da noch so einige alte Zöpfe aus vergangenen Jahrhunderten mit uns herum schleppen. Zudem - wer zahlt schon Steuern? Daimler z.B. tat dies um die Jahrtausendwende herum 12 Jahre lang nicht. Eben erst wieder hat unsere Politik relativ geräuschlos die REITs (spezielle Immobilienfonds) durchgewinkt - es war wohl doch wieder an der Zeit für ein nettes Steuer-Sparmodell zugunsten der Vermögenden. Nachdem man es ja - wohl aus Versehen - fertig gebracht hatte, vorübergehend das eine oder andere Steuerschlupfloch zu schließen (was sicherlich einen Teil des gegenwärtigen Steuersegens erklärt). Ferner kann inzwischen als gesichert gelten, dass Niedriglohnsektoren aller Art nicht wirklich das Gelbe vom Ei sind - selbst in USA und GB schuf dieser Weg neben einer Scheinentlastung in der Arbeitslosenstatistik nichts nennenswert Konstruktives und schon gar kein Wachstum - wie auch? Wenn ein Arbeitnehmer fortan für die Hälfte arbeitet, so ist das kein Wachstum sondern zunächst mal das Gegenteil davon.


ZUSAMMENFASSUNG

Mag ja sein, dass Wirtschaften nach Art der "Chicagoer Schule" irgendwo das Potential hat, besser zu funktionieren als nach Art der überkommenen Deutschland-AG. DANN aber auch bedeutet das - man MUSS die dazugehörigen Randbedingungen vollständig herstellen - und nicht nur jenen Teil, der einem in den eigenen Kram oder den der (nicht selten gut zahlenden) Klientel passt. Unser Arbeitsmarkt trägt noch in vieler Hinsicht Züge, die zu modernistischen Wirtschaftsprinzipien so gar nicht passen wollen. Ändern wird die Wirtschaft dies gewiss nicht - sitzt sie hier in Deutschland dank Hartz doch am Drücker für gesellschaftliche Änderungen, die in Skandinavien, Österreich, Niederlande oder Frankreich völlig undenkbar wären. So ist es fast schon eine eklige Mischung, die hierzulande aus Resten von Besitzständen und Anspruchsdenken der inzwischen schon ausverkauften Deutschland-AG und neofeudalen Radikalmodellen ala HARTZ zu einem höchst brisanten Zweikomponenten-Sprengstoff für die größte Gesellschaft der EU angerührt wird - und mit diesem wird vor unser aller Augen in nahezu kindlicher Naivität sorglos herum hantiert. Eine ausgewogene und schlupflochfreie Verteilung von Sozialkosten wäre hier sicher die unumgängliche Startbedingung für echte Reformen - wo sonst sollen in einem Land, wo sich Arbeitsplatzabbau trotz aller Reformen immer noch mehr lohnt, als andernorts, Massen neuer Arbeitsplätze herkommen? Bevor Aktivierung auf unserem Arbeitsmarkt überhaupt mal etwas bewirken kann, braucht es nämlich erst einmal einige Millionen davon sowie eine ebenso effiziente wie interessenunabhängige Arbeitsvermittlung. An ein solches Gesamtkonzept aber wagen sich unsere Politiker nicht - sie könnten ja dem einen oder anderen einflussreichen Interessengrüppchen auf die Treterchen latschen müssen. Und somit bleibt leider das Einzige, was HARTZ derzeit aktiviert, vor allem der Zeitzünder für den ganz großen gesellschaftlichen Big-Bang. Kein anderes Land in Europa hat derart viel Langzeitarbeitslose wie wir hier - dies könnte auch daran liegen, dass andere Gesellschaften es aus Vernunft, Skrupel oder Selbsterhaltungstrieb (je nach Sichtweise) vermeiden, im 21. Jahrhundert unnötig an Klassen- und Kastenexperimenten herum zu fummeln. In diesem Zusammenhang wird so auch schnell klar, wieso es in Deutschland keine gesetzlichen Mindestlöhne geben darf.

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