Weihnachtsmärchen...
Geschrieben von Jürgen Scheffler   
Samstag, 2. Dezember 2006

Ein Tag vor dem ersten Advent 2006. Weihnachten naht. Und was tut man an Weihnachten? Richtig - man macht sich Geschenke. Das finden offenbar auch unsere Regierung und Jubelmedien - und so sind zur Zeit Nikoläuse scharenweise mit prall gefüllten Säcken unterwegs - Aufschwung, Arbeitslose unter 4 Millionen, Wachstum, ja Wachstums-Weltmeister (unter den Industrienationen) - Endlich, ja endlich "wirken" die Hartz-Reformen! Wurde ja auch mal langsam Zeit - sonst hätte noch der letzte Erstklässler an dem Sinn all dieser absurden Maßnahmen gezweifelt. Nun, wie auch immer, frisch behauptet ist auf jeden Fall schon mal halb bewiesen und kosten tut es auch nichts...

Erstaunlich ist das Ganze schon - denn man hat ja nicht eine einzige wirkliche Reform angepackt, dafür aber eine ganze Reihe Verschlimmbesserungen. Eine davon: die Mehrwertsteuererhöhung! An einer Umgestaltung der Steuer in Richtung Konsumsteuer ist grundsätzlich nicht nur Schlechtes - doch hier gilt wie überall zunächst: das "Wie" muss man sich schon höchst genau ansehen. In unserem Absurdistan macht man dies nämlich so: Noch mehr Steuerentlastung für Unternehmen - und noch mehr Geld, was den Massen und damit der Massenkaufkraft weggenommen wird. Absurdistan halt. Da gewinnen düstere Szenarien für das kommende Jahr recht schnell an Konturen. Aber solange das Jahr noch nicht da ist, kann man diese in gewohnter Manier weg- und schön reden um dann später zu den üblichen Lügen über zu gehen.

Nun ein Blick auf die Konsumdaten des statistischen Bundesamtes verrät denn auch mehr, als den anscheinend immer noch WM-Trunkenen eigentlich lieb sein kann. Vielleicht sollte man hier die Statistik auch mal ein wenig "verharzen", denn für Oktober wird ein Umsatzrückgang des Einzelhandelsumsatzes von 0,8% gegenüber Oktober 2005 ausgeworfen. Vor allem an Lebensmitteln, Getränken und Tabakwaren wurde gespart - das Mehr an Non-Food-Umsatz konnte dies nicht auffangen - trotz der bevorstehenden Mehrwertsteuererhöhung, die zu allem Übel auch noch nur ein Einmaleffekt ist. Die vergleichsweise positiven Jahreszahlen enthalten dazu auch noch den WM-Effekt. Somit bleibt von der gefeierten Hype des besten Konsumklimas seit Jahren kaum mehr als ein blasser Schatten.

Viel fehlt nicht mehr, und die Informationsdeformation suggeriert uns demnächst noch, dass Mehrwertsteuer-Erhöhungen wachstumsfördernd seien. In Wahrheit sorgt die aktuelle im Wesentlichen bestenfalls dafür, dass man dieses Jahr nicht schon wieder das Risiko eingehen muss - wie die Jahre zuvor - ein gigantisches Weihnachtsgeschäft anzukündigen, welches dann weit hinter den Erwartungen zurückbleibt. Wer noch Geld übrig hat - und das sind immer weniger aber eben doch noch einige - wird sicher die eine oder andere Anschaffung tätigen. Aber fast genau so sicher dürfte sein, dass solche "vorgezogenen" Anschaffungen das Konsumklima in 2007 belasten werden.

Und das Schöne dabei - in den Geschäften ist so richtig Platz! Keine unmodisch gekleideten und schlecht frisierten Gestalten verstopfen die Gänge der Konsumpaläste - hier könnte der Rubel nun so richtig schön frei rollen, wenn er denn in ausreichendem Maße vorhanden wäre. Denn für Arbeitslose und Kleinrentner (mind. 15%) fällt der Weihnachtskaufrausch - wie schon die letzten Jahre - total aus. Deren finanzieller Spielraum hat sich weiter verschlechtert - siehe u.a. auch hier - und das wie üblich natürlich, ohne ihnen eine Wahl zu lassen. Nur interessiert das in diesem Lande niemanden - weil immer noch viele glauben, mit ein paar immer reicher werdenden Superreichen (die ihr Geld hier eh nicht ausgeben) und einer ständig schrumpfenden Schar von Menschen in nicht-prekären, ordentlich bezahlten Arbeitsverhältnissen sei auf Dauer nachhaltiges Wachstum zu generieren.

Selbst der Arbeitsmarkt scheint sich zu beleben - und schon wird in Berichten von Fachkräftemangel fabuliert. Als besonders krasses Beispiel dürfte den meisten die Callcenter-Tussie in Erinnerung sein - die den "Fachkräftemangel" tagelang medienwirksam als Hauptwachstumsbremse ihrer Branche in Szene setzen durfte. Call-Center-Arbeit hat soviel mit Fachkraft zu tun, wie die Eignung manches "Experten" in den üblen Talkshows mit dem jeweils zur Diskussion stehenden Thema. Für den Call-Center-Fall kann man nur feststellen: Gut dass es so ist - denn so werden die Menschen in ihrer durch Arbeitszeitverlängerung verknappten Freizeit nicht noch mehr durch unerwünschte Anrufe irgendwelcher Lotterievertreiber belästigt. Dieser unterirdische Beitrag zum Fachkräftemangel stiess denn wohl auch so manchem der Propagandisten selbst dermaßen auf, dass er inzwischen aus fast allen Medien "verschwunden" ist.

Der angebliche Fachkräftemangel jedenfalls ist mit Fug und Recht in der Rubrik "Dauer-Märchen" zu verorten - denn seit Jahren wird über Ingenieursmangel im Lande geklagt. Dennoch drehen Tausende Ingenieure mit über 50 als ALG II Empfänger Däumchen. Die Wirtschaft bildet immer unwilliger aus - und auch Neueinstellungen sollen am besten schon mit Jahren Erfahrung auf exakt dem Arbeitsplatz daherkommen, für den sie gesucht werden. Hier passt etwas nicht, verehrte Herren von der Wirtschaft - aber das fällt bei dem vielen, was hierzulande nicht zusammenpasst, eh kaum noch auf. Auch Menschen über 50 und andere Arbeitssuchende können arbeiten - und was eigentlich können 2 oder 3 Monate Einarbeitung schon groß ausmachen, wo man doch "angeblich" schon seit Jahren händeringend entsprechend qualifizierte Arbeitnehmer sucht?

Selbst die vielen Artikel der Jubelpresse enthalten denn auch zumeist im Fließtext Hinweise auf die Schieflage - der Arbeitsmarkt "brummt" heißt es zwar in der Überschrift aber im Kleingedruckten findet sich dann ... es gäbe nur 130.000 Hartz-Empfänger weniger. Wenn wir hier noch die Statistik-Tricks berücksichtigen (1 € - und Mini-Jobber zählen nicht als Arbeitslose, obwohl sie es objektiv sind...) bleibt da von den schön gefärbten Zahlen praktisch nichts mehr übrig. Einen wesentlich besseren Überblick über die reale Lage gibt denn zum Beispiel dieser Artikel.

Aber - Realitäten dürfen eben das schöne Weihnachtsmärchen 2006 auf keinen Fall trüben. Dieses soll wie schon zuvor das WM-Märchen nur hinwegtäuschen über die Prozesse, die in Wahrheit munter weiter ablaufen. Unser Land leidet vor allem an der rapide fortschreitenden Macht-Asymmetrie zugunsten der undemokratischen Wirtschaft. Längst sind hier gesellschaftliche Gärprozesse in Gang gesetzt - die uns auf lange Sicht ein Vielfaches von dem kosten werden, als bei einem ordentlichen Arbeitsmarkt und bei ordentlicher sozialer Versorgung der Menschen im Land jemals eingespart werden könnte.

Die Fronten des Disputs lassen sich recht gut an den beiden folgenden Links zu zwei Interviews ausmachen: Hans-Olaf Henkel und Jacques Delors. Das Gespenstische daran ist neben dem Inhaltlichen, dass der eigentliche Souverän beim Auskungeln des Weges zwischen diesen Gegenpolen praktisch keinen Einfluss mehr hat. Irgendwelche zweifelhaften Eilten kungeln in Hinterzimmern aus, wo es lang gehen soll - und feiern sich sodann in der käuflichen Presse als Überbringer von Heilsbotschaften, die nicht einmal welche sind.

Es war schon immer und ist auch heute überaus sinnvoll und vernünftig, den wahren Fortschritt daran fest zu machen, wie es den Armen und Ohnmächtigen im Lande geht - denn dies ist der Indikator für gesellschaftliche Stabilität und nicht irgendeine kurzlebige Medienhype. Und hier ist leider festzustellen: 1. nicht eine einzige echte Strukturreform wurde 2006 angepackt und 2. diesen Menschen ging es 2006 schlechter, ohne dass Besserung auch nur als Silberstreif am Horizont auszumachen wäre. Das sind die Realitäten im absurden Deutschland zu Weihnachten 2006.

Doch es wird in kaum noch erträglichem Ausmaß munter weiter auf diese Menschen eingedroschen - kein Tag vergeht wo nicht ein Dutzend widerliche Sendungen über krasse Einzelfälle aus der Unterschicht (einen Bodensatz der Gesellschaft, den es schon immer gab) jenes Bild prägen, was man hierzulande 5-7 Mio Menschen gewaltsam überstülpt. Über allem schwebt die Suggestion, all diese Menschen seien an ihren Problemen selbst schuld - dies ist die unmenschlichste und gröblichst fahrlässige aller Lügen durch unserer übersättigten und im Machtrausch befindlichen Schein-Eliten. Und diese wollen anscheinend nicht einmal zum Weinnachtsfest mehr davon ablassen.

Mancher sagt sich sicher - Diese Menschen können eben einfach nicht mit Geld umgehen. Nach der "Rechtsprechung" des Bundessozialgerichts bekommen die ja angeblich das volle soziokulturelle Existenzminimum gezahlt. Wer der so Urteilenden kann sich überhaupt vorstellen, von 345€ im Monate ALLE Kosten des Lebens hierzulande zu bestreiten? Glauben sie mir - die übergroße Mehrheit dieser Menschen kann und muss mit Geld umgehen können. Denn davon kann man überhaupt nur leben, wenn man jeden Cent mehrfach umdreht... und wie hier gezeigt, können die sich immer weniger Billigst-Lebensmittel von den trotz Preissteigerungen konstanten  (oder bei den Kleinrentner durch Diebstahl gar sinkenden) Realeinkomen leisten.

Die Ignoranz des öffentlichen Diskurses über diese Problematik indes treibt vernünftig denkende Menschen in den Zynismus: ...Das ist eben aktivierende Gesundheitspolitik. Schließlich stand vor einigen Monaten noch zu lesen - das Übergewicht habe den Hunger als Geißel der Menschheit abgelöst (Welch ein Schwachsinn!) und es kann ja schließlich nicht angehen, dass all die Hartzlinge und Kleinrentner die Krankenkassen mit ihrer Überernährung weiter belasten. Und was die Kultur angeht - die meisten Konzerte und Veranstaltungen kann man von der Parkbank nebenan auch sehr gut miterleben, vor allem wenn man Richtmikrofon und Nachtfernglas sein eigen nennt. Zeitung lesen lässt sich toll beim Sitznachbarn - sofern man sich das Geld für eine ordentliche Brille vom Munde abgespart hat. Allenfalls ein Lachverbot in der Öffentlichkeit wäre noch nach zu schieben - schließlich stört so ein Armutsgebiss die öffentliche Ästhetik doch ganz schön...

Doch zurück zum Thema: eigentlich waren wir ja bei Geschenken und nicht dem Gegenteil davon - natürlich kriegt die chronisch notleidende Wirtschaft auch eines. Nein - nicht eines.. gleich mehrere! Nun sie ist ja - jetzt kurz vor Weihnachten - auch sehr artig gewesen. Mit weiteren Entlassungsankündigungen hielt man sich vorübergehend etwas zurück. Und so gibt es erst einmal eine satte 8 Mrd. Steuersenkung. Und dank des Durchwinkens von börsennotierten Immobilienfonds (REITs) können denn bald endlich auch wieder mal so richtig Steuern gespart werden.

Was hat der Weihnachtsmann denn noch so im Gepäck? Ach ja - für die ewig nörgelnden Arbeitnehmer: Kombilohn und - Achtung etwas Neues - Investivlohn. Beides sehr gelungene Geschenke - nur fragt sich für wen. Ein etwas nüchterner Blick darauf enttarnt beide denn auch schnell als rechte Gerade in das Gesicht der Vernunft. Ein Arbeitsplatz, den der Staat bezuschusst, macht vor allem eines - er vernichtet andere bislang ordentliche Arbeitsplätze. Keinem Unternehmer kann man es verdenken, wenn er bis 3 € Zuschuss zum Stundenlohn gerne einstreicht - also wird er vorhandene Arbeitsplätze darauf umstellen. Neue schaffen? Wenn überhaupt dann, und nur dann - wenn er auch reguläre neu geschaffen hätte. Damit gehört das Ganze eigentlich ersatzlos in die Mülltonne...

Doch dies ahnend gebar man Neues: Das jüngste Kind absurder neoliberaler Schöpfungen - Investivlohn. Dieser hätte dann - und nur dann - positive Auswirkungen, wenn er vollständig zusätzlich zum bisherigen Einkommen, z.B. als durchaus gerecht anzusehende zusätzliche Gewinnbeteiligung der Arbeitnehmer am Unternehmenserfolg (wie bei den Managern) gewährt würde. Doch daran denkt seitens der Protagonisten niemand. Es ist viel mehr daran gedacht, einen Teil des bisherigen Arbeitslohns in den Unternehmen zu belassen - als Eigenkapital-Reserve sozusagen. Und sogleich werden all die schönen Segnungen dieser Maßnahme bis hin zu angeblicher Altersabsicherung besungen - Idiotie in Reinkultur! Der Arbeitnehmer erhält vor allem eines - weniger Geld! Was mit seinem investierten Geld geschieht, entscheidet indes nicht er sondern irgendwelche Heuschrecken im Verein mit nicht selten unfähigen Spitzenmanagern in seinem Unternehmen. Hiervor kann man die Menschen, die derzeit noch arbeiten dürfen, nicht genug warnen...

Nun - sie sehen, verehrte Leser - das schöne Hochglanzbild offenbart bei näherem Hinsehen doch schnell eine Menge Risse. Sicher kann man mir vorwerfen - ich fröhnte der deutschen Lieblings-Untugend: Alles schlecht zu reden. Doch ist dies nicht meine Absicht - ich rede nichts schlecht. Die Dinge sind so - und da helfen auch keine Weihnachtsmärchen, so sehr man sich auch nach einer wieder heilen Welt sehnen mag. Gerne würde ich genau so engagiert feiern, wenn es denn etwas zu feiern gäbe.

Aber da ist weit und breit nichts in Sicht. Statt dessen sehe ich vor mir: Hartzlinge und Kleinrentner dürfen im Weihnachtsgeschäft all die schicken Sachen mit großen Kinderaugen bestaunen - kaufen können sie sich und ihren Lieben nichts. Dem nicht genug sind sie bereits so sehr marginalisiert, dass ihre Welt auch in der öffentlichen Wahrnehmung immer mehr getilgt wird - fast könnte man sagen, sie sind schon praktisch nicht mehr da. Hierfür müsste man sich eigentlich schon fast schämen, denn Weihnachten isr vor allem eines: Ein Fest christlicher Nächstenliebe. Angesichts der absurden Verhältnisse in unserem Land kann man nur das alte Buch nehmen, und den Reichen, Mächtigen und Schönen des Landes an diesem Vorabend des ersten Advent ins Gesicht schreien: "Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan! ...". Mein erster Wunsch für Weihnachten 2006 wäre, dass möglichst viele Menschen sich anlässlich des Festes daran erinnern und mein zweiter, dass nicht mehr so viele hierzulande an den Weihnachtsmann glauben. Kommen sie gut in den ersten Advent.

CogitoSum - Beitragskritik:
Politik - Hintergründe:

ARTIKELENDE