Permanentreform
Geschrieben von Jürgen Scheffler   
Montag, 22. Januar 2007

Immer wieder Thema bei CogitoSum: das Gesundheitswesen. Aber nicht nur bei uns - kaum scheint nach einer unendlich schweren Geburt das aktuelle Reförmchen eher durch Ermüdung der Kontrahenten als durch überzeugende Gesamtkonzeption voran zu kommen, da zieht am Horizont schon der nächste Konfliktstoff auf. Die nach Medienberichten aufziehende neuerliche Diskussion wird offenbar durch die Erkenntnis transportiert, dass die gegenwärtige Reform zwar einige - nach unserer Ansicht eher marginale - Strukturreformen zwar anpackt, nicht aber insgesamt mehr Geld in die öffentlichen Kassen spült. Nach der langen ebenso erhitzten wie unsinnigen Diskussion um solche Selbstverständlichkeiten wie den Ausgleich zwischen wirtschaftlich unterschiedlich starken Bundesländern, scheint den Reformern dieses Detail aus dem Fokus geraten...

Dabei ist es beileibe kein Detail - man hat sich auf Steuermittel zur Schließung sich auf tuender Finanzdefizite verständigt. Dies könnte sich unversehends als eine schweren Hypothek für den zur Zeit relativ erfolgreichen Konsolidierungskurs der Staatsfinanzen herausstellen - denn trotz Leistungsverunstaltung, trotz epochalem Anstieg der Eigenbeteiligung von Leistungsempfängern und trotz historischer Tiefstände der Krankmeldungen: die Kosten im Gesundheitswesen steigen unbeirrt weiter, woran der tobende Bürokratiewahn dort sicher auch seinen Anteil hat.

Und schon werden Rufe nach Steuererhöhungen laut, um wenigstens einen Teil des Risikos abzufangen. Im Prinzip ist zwar richtig, die in Deutschland insgesamt zu niedrigen Steuern anzuheben - doch bleiben erhebliche Zweifel, ob denn hiermit das Problem gelöst wird. Nur mehr Geld in ein unbestreitbar marodes und entgleistes System zu pumpen löst die Probleme jedenfalls nicht wirklich, sondern führt bestenfalls zur deren weiteren Verstetigung. Was aber sonst tun? Handlungsspielraum besteht kaum noch und sämtliche Stellschrauben sind ausgeleiert.

Inzwischen sind Verhältnisse erreicht, wo es Kleinrentnern und Langzeitarbeitslosen immer weniger möglich ist, Gesundheitsleistungen überhaupt noch in Anspruch zu nehmen - die teilweise saftigen Zuzahlungen übersteigen deren Budgets längst und selbst wenn sie dem Gesetze nach Anspruch auf Erstattung hätten, verfügen sie oft nicht über die Mittel zur Zwischenfinanzierung. Am Leistungskatalog lässt sich wohl auch nicht mehr viel drehen, will man die Bezeichnung "Gesundheitswesen" nicht ad absurdum führen.

Guter Rat scheint teuer - denn hier rächt sich nun über Jahrzehnte angesammelte Vogelstrauß-Politik. Das gesamte System mit seinen über 200 Krankenkassen, unzähligen Verbänden und Profiteuren scheint immer unfinanzierbarer zu werden. Hier nun eine noch stärkere Vermengung zwischen Beitrags- und Steuerfinanzierung herbeizuführen wird diese Tatsache neuerlich für einige Zeit unter den Teppich kehren, mag vielleicht die nächste Wahl retten - das für Millionen Menschen im Lande existenziell wichtige staatliche Gesundheitswesen indes wird weiter der Verwahrlosung ausgeliefert.

Es ist ein Trauerspiel historischen Ausmaßes, dass die derzeitige große Koalition sich der Aufgabe einer grundlegenden Struktur-Reform im Gesundheitswesen verweigert. Nur eine solch starke Regierung nämlich wäre nämlich in der Lage, diese Aufgabe überhaupt zu bewältigen. Es mag sein, dass die CDU in der Regierungskoalition wirklich nachhaltige Schritte in diese Richtung behindert - doch das enthebt die SPD nicht des Vorwurfs, dass nicht wenigstens sie den Mut aufbrachte, endlich mal eine vernunftgemäße Zielprojektion für das Gesundheitswesen des nächsten Jahrhundert in die öffentliche Debatte zu werfen.

Deren Grundzüge sind logisch klar: Gesetzliche Versicherungspflicht für alle, Straffung und Minimierung des Verwaltungsaufwandes, Abschaffung der Selbstverwaltung - der grandioses Versagen zu bescheinigen ist, Abschaffung der unsinnigen Beitragsbemessungsgrenzen, Umstellung des Arbeitgeber-Anteils von der Lohnabhängigkeit auf unternehmenserfolgsabhängige Erhebung. Kontrollrecht für Versicherte über die für sie abgerechneten Leistungen.

Alle - aber auch ausnahmslos alle bisherigen Versuche endeten in der Sackgasse - die Kosten steigen unablässig weiter während sich die Basis für die - inzwischen als schwachsinnig anzusehende - Finanzierung allein über Lohnzusatzkosten beständig verringert - und in den nächsten Jahrzehnten vorhersehbar weiter verringern wird. Es wird Zeit, dass Kopfgeburten wie die eines Wettbewerb zwischen Krankenkassen und der aktuell kaum noch erträgliche Bürokratiewust komplett in der Rundablage landen.

Nicht genug gewarnt werden kann indes vor einer Liebäugelei mit privaten Lösungen. Unternehmen sind schon prinzipiell nicht in der Lage, soziale Aufgaben in einer Weise zu lösen, die für eine gerechte und solidarische Gesellschaft erträglich wäre. Wie viel weniger erst werden sie diese Aufgabe in der Praxis leisten können - der Rückzug auf solche Lösungen beinhaltet nichts weiter, als die Abschaffung des Gesundheitssystems überhaupt. DAS sollten die Herren und Damen von der Union und FDP eigentlich gleich dabei sagen, wenn sie Forderungen in diese Richtung erheben.

Ein solidarisches Gesundheitssystem aber braucht es - denn der Anteil der Gesellschaft, der auf dieses angewiesen sein wird, wird nicht geringer sondern steigen. Schon heute stehen wir an der Grenze dazu, dass arme Menschen sich hierzulande keine ordentliche Gesundheitsvorsorge mehr leisten können. Und dies trotz gesetzlicher Versicherung - wie bitteschön soll dies erst ausschauen, wenn man das alles privatisiert?

Die Arithmetik privater Versicherungen nämlich ist für gesellschaftliche Aufgaben schlicht unanwendbar - wie man sehr schön am Problem der Privatversicherungen mit der Versorgung von Rentnern erkennt. Zum Beweis: das gegenwärtige Reförmchen zwingt die privaten Krankenkassen immerhin, ihre Raubzüge hinsichtlich der Altersrückstellungen unter den Versicherten einzustellen - und schon sind saftige Beitragserhöhungen im Gespräch. Private können immer nur Reiche und Gesunde gut versorgen - damit allein aber ist kein Staat zu machen.

Wenn sich bezüglich der Gesundheitsproblematik nicht bald etwas Entscheidendes in der großen Koalition tut, dürfte die Politik hierzulande insgesamt ihre epochale Chance zur Rückgewinnung einer zukunftsgestaltenden Initiative endgültig verspielt haben - niemand der noch bei Vernunft ist, wird erwarten können, dass diese Regierung in 2008 oder 2009 mit zahllosen Wahlen aller Art zu etwas Vernünftigerem fähig sein könnte als derzeit.


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