2005-07-01
Persönliche
Erklärung von Werner Schulz
Erklärung
zu meinem Abstimmungsverhalten bezüglich der Vertrauensfrage von
Bundeskanzler Gerhard Schröder am 1. Juli 2005
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundeskanzler,
ich
werde mich an dieser Abstimmung nicht beteiligen. Was hier abläuft,
ist ein inszeniertes, ein absurdes Geschehen. Die Ereignisse der
letzten Woche und die heutige Debatte haben mich trotz
staatsmännischer Rede nicht überzeugt. Hier läuft eine
fingierte oder, wie die Juristen sagen, eine unechte Vertrauensfrage.
Schon
der erste Satz Ihres Antrages, Herr Bundeskanzler, ist unwahr. Sie
wollen doch gar nicht, dass man Ihnen das Vertrauen ausspricht. Sie
wollen diese Abstimmung verlieren. Sie suchen einen Grund für
Neuwahlen und damit das organisierte Misstrauen. Sie selbst haben
verkündet, sich der Stimme zu enthalten. Aber was ist ein
Kanzler, der das Selbstvertrauen verloren hat?
(Beifall
bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
Sie
sollten übrigens die Argumentation mit Franz Müntefering
noch einmal genau abstimmen. Er ist stolz auf den Meinungsstreit in
der Fraktion, für Sie ist er ein Anlass zu Misstrauen. Im
Übrigen, Franz Müntefering, Ihre Aufforderung an Angela
Merkel, hier das konstruktive Misstrauensvotum herbeizuführen,
und Ihre Aussage, dass wir jederzeit die Kanzlermehrheit haben, ist
beeindruckend, nicht nur für das Protokoll.
(Beifall
der Abg. Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Beifall
bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
Ich
hätte bei so vielen Dialektikern hier im Parlament nicht
geglaubt, dass wir einmal die feinsinnige Dialektik von Bertolt
Brecht berühren. Sie wissen, dass er die Regierung aufgefordert
hat, ein anderes Volk zu wählen. Wir werden heute etwas
Ähnliches erleben: nicht die Mehrheit misstraut dem Kanzler,
sondern der Kanzler misstraut seiner eigenen Mehrheit.
Bis
in die gestrigen Abendstunden hatten wir eine stabile Mehrheit, die
in sieben Jahren nicht ein einziges Mal versagt hat, obwohl sie seit
dem 22. Mai vom Kanzler und von Franz Müntefering attackiert
wird. Sie suchen eine neue Legitimation für Ihre Politik, doch
diese Art von Stimmungsdemokratie sieht unser Grundgesetz nicht vor.
(Beifall
der Abg. Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Beifall
bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Zwar
wird allenthalben die Frage gestellt "Was wäre, wenn am
nächsten Sonntag Wahl wäre?", aber am nächsten
Sonntag ist nicht Wahl. Wir leben in einer Demokratie und nicht in
einer Demoskopie. Sie haben den Satz von Einstein an Ihrem Kanzleramt
nicht verstanden: Der Staat ist für die Menschen, nicht die
Menschen für den Staat.
(Beifall
bei der CDU/CSU und der FDP)
Sie
beugen unsere Verfassung, wenn Sie mit Hinweis auf das Grundgesetz
ein Referendum über die EU-Verfassung verwehren und im nächsten
Moment durch Selbstauflösung des Bundestages eine
Volksabstimmung über die Fortsetzung Ihrer Politik herbeiführen
wollen. Sie haben geschworen, das Grundgesetz zu wahren und zu
verteidigen.
Ein
paar Schritte vom Kanzleramt entfernt steht an der Schweizer
Botschaft der Einstein-Satz: Echte Demokratie ist doch kein leerer
Wahn.
(Beifall
des Abg. Jürgen Koppelin (FDP))
Was
jetzt passiert, ist aber die Sinnentleerung des Art. 68. Dass
ausgerechnet die alten 68er, so wie sie hier versammelt sind,
(Heiterkeit
und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
über
einen Missbrauch des Art. 68 ihren Abgang vorbereiten, gehört zu
den grotesken Momenten dieses Vorgangs.
(Heiterkeit
und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dabei
haben Sie gerade bei der Vertrauensfrage im Zusammenhang mit dem
Militäreinsatz in Afghanistan gezeigt, wie dieser Artikel
moralisch und politisch zu gebrauchen ist. Sie haben eine eigene
Mehrheit demonstriert und dafür sogar eine breite
parlamentarische Mehrheit verschmäht. Sie wollten Helmut Kohl
nicht nachahmen; heute kopieren Sie ihn, wobei der Vergleich mit der
damaligen Lage doch etwas schräg ist.
(Beifall
bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Mir
ist die Demokratie nicht geschenkt worden. Mit einigen anderen musste
ich unter gefährlichen Umständen Demokratie und Freiheit
erst erkämpfen. Schon deswegen sind mir die Grundregeln der
Demokratie, wie sie in unserem Grundgesetz stehen, ein hoher Wert -
gerade in einer Zeit, in der wir über den Werteverfall und die
Vertrauenskrise der Politik reden. Glauben Sie denn ernsthaft daran,
dass Sie nach dieser verschwiemelten Operation morgen in den
Wahlkampf ziehen und über Wahrheiten reden können?
(Jörg
Tauss (SPD): Ja!)
Das
ist nicht nur ein Tiefpunkt der demokratischen Kultur, sondern Sie
beschädigen auch das Ansehen des Parlamentes und meine und
unsere Rechte als Abgeordnete.
(Beifall
der Abg. Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Beifall
bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Oder,
um einen aktuellen Buchtitel des Außenministers aufzugreifen:
Die Rückkehr der Geschichte sollten wir nicht als ein Stück
Volkskammer veranstalten.
(Widerspruch
beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Auch
da wurden die Abgeordneten eingeladen, nicht ihrer Überzeugung,
sondern dem Willen von Partei- und Staatsführung zu folgen.
(Beifall
bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Sie
haben mit Ihrem genialen Schachzug alles erreicht, was Sie vermeiden
wollten: Die Opposition ist geeint und geschlossen wie nie zuvor,
(Beifall
bei Abgeordneten der FDP)
die
Formierung einer neuen Linkspartei und die Erosion der SPD wurden
beschleunigt. Sie werden nicht als Patriot in die Geschichte
eingehen, wie ein wirrer Schönschreiber in der "Zeit"
meint, sondern eher als einer, der letztlich seine Partei zerlegt und
sein Land in Schwierigkeiten gebracht hat.
(Beifall
bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
Präsident
Wolfgang Thierse: Lieber Kollege Schulz, die fünf Minuten sind
vorüber.
Werner
Schulz: Ich komme zum Ende. Denn auch in der Einschätzung der
politischen Situation täuschen Sie sich. Die Bürgerinnen
und Bürger wollen nicht Neuwahlen, sie wollen die Abwahl von
Rot-Grün.
(Beifall
bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Offenbar
wollen Sie das auch die Flucht aus der Verantwortung. Nur, das ist
ein würdeloser Abgang, den wir hier erleben.
Präsident
Wolfgang Thierse: Kollege Schulz, Sie müssen zum Ende kommen.
Werner
Schulz: Ich mache mir Sorgen um unser Land, weil ich finde, dass auch
die Opposition nicht vorbereitet ist und kein Konzept hat.
(Widerspruch
bei der SPD) <----
Anm. der Redaktion: ????
Wenn
das, was wir bisher als Vertrauenskrise der Politik erlebt haben, nur
ein Vorgeschmack ist,
Präsident
Wolfgang Thierse: Kollege Schulz!
Werner
Schulz: dann werden wir uns auf stürmische Zeiten einrichten
müssen.
Ich
danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall
bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
Quelle:
Bundestagsbüro des Abgeordneten Werner Schulz
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